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John le Carré:

Smileys Leute oder

Agent in eigener Sach 

Für meine Söhne

Simon, Stephen, Timothy und Nicholas

in Liebe

1

Zwei scheinbar unzusammenhängende Ereignisse gingen dem Ruf voraus, der Smiley aus seinem dubiosen Ruhestand zurück­holen sollte. Das erste hatte als Ort der Handlung Paris und als Zeit der Handlung den kochenden Monat August, wenn die Pa­riser traditionsgemäß ihre Stadt der sengenden Sonne und den Busladungen zusammengepferchter Touristen überlassen. An einem dieser Augusttage - dem vierten, genau gesagt, und um Schlag zwölf Uhr, wie eine Fabriksirene, gefolgt von einer Kir­chenglocke, bezeugte - tauchte in einem quartier , das einst für seinen hohen Anteil an russischen Emigranten der ärmeren Sorte bekannt gewesen war, eine stämmige, etwa fünfzigjährige Frau mit einer Einkaufstasche in der Hand aus der Dunkelheit eines alten Lagerhauses auf und ging, nach ihrer Gewohnheit, ener­gisch und zielstrebig das Trottoir entlang zur Bushaltestelle. Die Straße war grau und eng und verödet, mit einigen kleinen hôtels de passe und einer Menge Katzen. Aus irgendeinem Grund war die Gegend besonders ruhig. Das Lagerhaus blieb, seiner ver­derblichen Waren wegen, während der Urlaubszeit geöffnet. Die Hitze, geschwängert von Ausdünstungen, die auch nicht der leiseste Lufthauch vertrieb, stieg wie aus einem Liftschacht an ihr hoch, doch die slawischen Züge der Frau zeigten keinerlei Be­schwer. Sie war für Anstrengungen an einem heißen Tag weder gekleidet noch gebaut, denn sie war so kurzbeinig und dicklei­big, daß sie ein wenig rudern mußte, um vorwärts zu kommen. Ihr schwarzes Kleid von klösterlicher Strenge wies weder eine Taille noch irgendeinen Putz auf, wenn man von dem Käntchen weißer Spitze am Hals und von einem großen abgegriffenen Kreuz aus vermutlich wertlosem Metall auf ihrem Busen absah. Die rissigen Schuhe, deren Spitzen beim Gehen auswärts gerichtet waren, erzeugten einen hallenden Trommelschlag zwischen den Häusern mit den geschlossenen Fensterläden. Die schäbige Tasche, die seit dem frühen Morgen voll war, gab ihrer Trägerin eine leichte Schlagseite, und man sah, daß sie an Lasten gewöhnt war. Es ging aber auch etwas Fröhliches von ihr aus. Das graue Haar war zu einem Knoten gefaßt, doch eine widerspenstige Stirnlocke wippte über den Brauen im Rhythmus ihres Wat­schelschritts. Ein verwegener Humor sprach aus ihren Augen. Ihr Mund über dem Boxerkinn schien bereit, beim geringsten Anlaß zu lächeln.

Als sie an ihrer Bushaltestelle angekommen war, stellte sie die Tasche ab und massierte sich mit der rechten Hand den Rücken, eine Bewegung, die sie in letzter Zeit oft machte, obwohl sie ihr keine Erleichterung verschaffte. Der hohe Hocker in dem La­gerhaus, wo sie jeden Vormittag als Aufsicht arbeitete, hatte keine Lehne, und sie verspürte in zunehmendem Maß diese Un­zulänglichkeit. »Du Teufel!« apostrophierte sie den schuldigen Teil. Nachdem sie ihn gerieben hatte, faltete sie die schwarzen Ellbogen nach hinten, wie eine alte Stadtkrähe, die sich zum Fliegen anschickt. »Du Teufel«, wiederholte sie. Plötzlich fühlte sie, daß sie beobachtet wurde. Sie schwenkte herum und lugte zu dem massigen Mann hoch, der wie ein Turm vor ihr aufragte. Er war außer ihr der einzige Mensch an der Haltestelle, ja sogar in der ganzen Straße. Sie hatte nie mit ihm gesprochen, und doch war sein Gesicht ihr vertraut: so groß, so weichlich, so ver­schwitzt. Sie hatte es gestern gesehen, sie hatte es vorgestern ge­sehen und, soweit sie sich erinnern konnte - Herrgott, sie war schließlich kein wandelndes Tagebuch! - auch vorvorgestern. Während der letzten drei oder vier Tage war dieser schwächliche und nervöse Riese, wenn er so auf einen Bus wartete oder vor dem Lagerhaus herumlungerte, für sie zu einer Figur der Stra­ßenszenerie geworden; mehr noch, er gehörte einem ganz be­stimmten Typus an, nur hatte sie ihn bis jetzt noch nicht einord­nen können. Sie dachte, er sehe traqué - gehetzt - aus, wie so viele Pariser heutzutage. Sie sah so viel Angst in ihren Gesichtern, in der Art und Weise, wie sie grußlos aneinander vorbei­gingen. Vielleicht war es überall so, wie sollte sie das wissen? Mehr als einmal hatte sie sein Interesse an ihr bemerkt. Sie hatte sich sogar gefragt, ob er womöglich Polizist sei; mit dem Gedan­ken gespielt, ihn zu fragen. Soviel Großstadt-Chuzpe besaß sie durchaus. Seine düstere Erscheinung verwies auf Polizei, ebenso wie sein verschwitzter Anzug und der nutzlose Regenmantel, der wie ein altes Uniformstück über seinem Arm hing. Sollte sie recht haben und er wirklich von der Polizei sein, dann - es war weiß Gott nicht mehr zu früh - unternahmen diese Idioten end­lich etwas gegen die Flut von Diebereien, die seit Monaten ihre Inventurarbeiten zur Hölle machten.

Der Fremde hatte sie schon seit geraumer Zeit angestarrt und glotzte sie weiterhin unentwegt an.

»Ich bin von Rückenschmerzen geplagt, Monsieur«, vertraute sie ihm schließlich in ihrem langsamen und klassisch ausgespro­chenen Französisch an. »Der Rücken ist nicht groß, aber der Schmerz steht in keinem Verhältnis dazu. Sind Sie zufällig Arzt? Orthopäde?« 

Dann fragte sie sich, wie sie so an ihm hochsah, ob er nicht selber krank sei, und sie einen schlechten Scherz gemacht habe. Sein Gesicht und Nacken glitzerten ölig, und um seine willensschwa­chen wäßrigen Augen lag ein Zug blinder Selbstbesessenheit. Er schien über sie hinweg auf einen eigenen Kummer zu blicken. Sie wollte ihn schon danach fragen - sind Sie vielleicht verliebt, Monsieur? - betrügt Ihre Frau Sie? - und zog bereits in Erwä­gung, ihn zu einem Glas Mineralwasser oder einer tisane in ein Bistrot zu lotsen - als er sich plötzlich von ihr abwandte und hin­ter sich blickte, dann über ihren Kopf hinweg in die andere Rich­tung die Straße hinunter. Und sie hatte den Eindruck, daß er ver­ängstigt war; nicht nur traqué, sondern zu Tode erschrocken. Er war also vielleicht kein Polizist, sondern ein Dieb; obgleich der Unterschied, wie sie sehr wohl wußte, oft nur minimal war. »Sie heißen Maria Andrejewna Ostrakowa?« sagte er plötzlich in einem Ton, als ängstige ihn die Frage.

Er sprach französisch, aber sie wußte, daß er so wenig Franzose war, wie sie Französin, und die korrekte Aussprache ihres Na­mens mit dem Patronymikon verwies auf seine Herkunft. Sie er­kannte sofort die verschliffene Redeweise und deren Ursache, die eigenartige Zungenbewegung, und sie identifizierte zu spät und mit beträchtlichem inneren Schauder den Typus, den sie nicht hatte bestimmen können.

»Wenn schon - wer um alles in der Welt sind Sie ?« fragte sie zu­rück und reckte das Kinn drohend vor.

Er schob sich einen Schritt näher. Der Größenunterschied wurde plötzlich beklemmend. Desgleichen das Maß, in dem die Züge des Mannes seinen unerfreulichen Charakter verrieten. Aus ihrer Froschperspektive sah die Ostrakowa seine Schwäche ebenso deutlich, wie seine Furcht. Sein schweißbedecktes Kinn hatte sich grimassierend nach vorn geschoben, die Mundwinkel waren nach unten gezogen, um Härte vorzutäuschen, aber sie wußte, daß er nur eine unheilbare Feigheit bannen wollte. Er sieht aus wie jemand, der sich zu einer Heldentat aufrafft, dachte sie. Oder zu einer Missetat. Er ist ein Mensch, der keiner spon­tanen Handlung fähig ist, dachte sie.

»Sie wurden in Leningrad am 8. Mai 1927 geboren?« fragte der Fremde.

Wahrscheinlich hatte sie »ja« gesagt. Sie war sich später dessen nicht ganz sicher. Sie sah, wie er sich wiederum mit der Zunge über die Lippen fuhr. Sie sah, wie sich seine blassen furchterfüll­ten Augen hoben und auf den näherkommenden Bus starrten. Sie sah, wie eine geradezu panikartige Unentschlossenheit von ihm Besitz ergriff, und sie hatte den Eindruck - der sich später als eine fast hellseherische Ahnung herausstellen sollte - daß er er­wog, sie unter die Räder zu stoßen. Er tat es nicht, aber er stieß die nächste Frage auf Russisch hervor - im brutalen Moskauer Amtston: