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Andererseits hatte dieser Gegenspieler jetzt ein menschliches Gesicht von bestürzender Klarheit angenommen. Er war keine reißende Bestie, die Smiley mit solcher Meisterschaft jagte, auch kein hemmungsloser Fanatiker, kein seelenloser Automat. Er war ein Mensch; und einer, dessen Sturz, sobald Smiley sich ent­schließen würde, ihn herbeizuführen, letztlich keine sträflichere Ursache hätte als ein Übermaß an Liebe, eine Schwäche, die Smi­ley aus den Verstrickungen seines eigenen Lebens in hohem Maß vertraut war.

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Laut Circus-Überlieferung ist die Zeit, die man bei einer Ge­heimaktion mit Warten verbringt, länger als die Ewigkeit, und George Smiley wie auch Toby Esterhase hatten, jeder auf seine ganz spezielle Art, den Eindruck, daß die Zeit zwischen Sams­tagabend und Freitag es durchaus mit der Endlosigkeit des Jen­seits aufnehmen konnte.

Sie lebten eigentlich nicht so sehr nach den Moskauer Regeln, sagte Toby, als vielmehr nach Georges Kriegsregeln. Beide wechselten noch am selben Samstagabend Hotel und Namen. Smiley zog in ein kleines hôtel garni in der Altstadt, das Arca, und Toby in ein scheußliches Motel außerhalb der Stadt. Danach verständigten sich die beiden Männer per Telefon von öffentli­chen Zellen aus, die sie in einem vorher abgesprochenen Turnus benützten, und wenn sie sich treffen wollten, wählten sie belebte Orte im Freien, gingen eine kurze Strecke nebeneinander her und trennten sich wieder. Toby hatte beschlossen, seine Spuren zu verwischen, wie er sagte, und er verwendete den Wagen so wenig wie möglich. Er hatte die Aufgabe, Grigoriew im Auge zu behalten. Die ganze Woche gab er der unerschütterlichen Über­zeugung Ausdruck, daß Grigogiew, nach den kürzlich genosse­nen Wonnen eines Geständnisses, sich todsicher den Luxus einer weiteren Beichte leisten würde. Um dem zuvorzukommen, hielt er Grigoriew so kurz wie möglich an der Leine, aber es war schon ein Kunststück, ihn überhaupt zu halten. So brach Grigo­riew zum Beispiel jeden Morgen um ein Viertel vor acht Uhr von zu Hause auf und ging fünf Minuten zu Fuß zur Botschaft. So weit, so gut: Toby fuhr dann um Punkt sieben Uhr fünfzig die Straße hinunter. Trug Grigoriew seine Mappe in der rechten Hand, dann wußte Toby, daß nichts im Busch war. Die Linke bedeutete jedoch »Alarm« mit einem Blitztreff in den Gärten von Schloß Elfenau und einer Ausweichlösung in der Stadt. Am Montag und Dienstag benützte Grigoriew über die ganze Strecke nur die rechte Hand. Doch am Mittwoch schneite es, er wollte seine Brillengläser abwischen, blieb also stehen und suchte nach dem Taschentuch. Ergebnis: Toby sah zuerst die Mappe in seiner Linken, raste um den Block, um sich nochmals zu vergewissern, und siehe da, Grigoriew grinste ihn an wie ein Irrer und winkte ihm mit der Mappe zu, die er in der Rechten hielt. Toby hatte, nach seinen eigenen Worten, >einen totalen Herzanfall<. Am nächsten Tag, dem entscheidenden Donners­tag, brachte Toby in dem kleinen Dorf Allmendingen, vor den Toren der Stadt, einen Autotreff mit Grigoriew zustande und konnte direkt mit ihm sprechen. Eine Stunde zuvor war der Ku­rier Krassky gekommen und hatte Karlas wöchentliche Order gebracht: Toby hatte ihn bei Grigoriew ins Haus gehen sehen. Wo sind also die Instruktionen aus Moskau? fragte Toby. Grigo­riew war aufsässig und ein wenig betrunken. Er verlangte zehn­tausend Dollar für den Brief, was Toby so wütend machte, daß er Grigoriew mit allen möglichen Bloßstellungen bedrohte; er würde ihn zur nächsten Polizeiwache bringen und ihn persönlich anzeigen, weil er sich als Schweizer ausgab, weil er seinen Status als Diplomat mißbrauchte, weil er die Schweizer Zollgesetze verletzte und noch wegen fünfzehn anderer Dinge einschließlich Hurerei und Spionage. Der Bluff funktionierte, Grigoriew rückte den bereits behandelten Brief heraus, die Geheimschrift trat deutlich lesbar zwischen den handgeschriebenen Zeilen her­vor. Toby machte mehrere Aufnahmen davon und gab ihn dann Grigoriew zurück.

Die Fragen aus Moskau, die Toby spät am Abend Smiley bei ei­nem ihrer seltenen Treffen in einer Landgaststätte zeigte, hatten einen flehenden Klang:

». . . berichten Sie ausführlicher über Alexandras Aussehen und Geistesverfassung ... Ist sie bei Verstand? Lacht sie und klingt ihr Lachen glücklich oder traurig? Hält sie sich reinlich, saubere Fingernägel, Haar gebürstet? Wie lautet der letzte Befund des Arztes, empfiehlt er irgendeine andere Behandlung?«

Doch Grigoriews Hauptsorge bei ihrem Treffen in Allmendin­gen galt weder Krassky noch dem Brief, noch dem Verfasser des Briefes. Seine Freundin aus der Visa-Abteilung habe ihn wegen seiner Freitagsausflüge zur Rede gestellt. Daher seine Depres­sion und sein betrunkener Zustand. Grigoriew hatte auswei­chend geantwortet, aber er hatte sie im Verdacht, eine Spionin aus Moskau zu sein, die entweder der Priester oder, schlimmer noch, irgendein Organ des Staatssicherheitsdienstes auf ihn an­gesetzt hatte. Toby teilte zufällig diese Vermutung, hatte aber den Eindruck, daß nichts damit ausgerichtet wäre, wenn er es sagte.

»Ich habe ihr gesagt, ich würde erst wieder mit ihr ins Bett gehen, wenn ich ihr völlig trauen könnte«, sagte Grigoriew ernsthaft. »Ich bin mir auch noch nicht ganz sicher, ob sie mich nach Au­stralien begleiten und mit mir ein neues Leben anfangen darf.« »George, das ist ein Narrenhaus!« sagte Toby zu Smiley in einem Furioso von Bildern, während Smiley weiterhin Karlas drän­gende Fragen studierte, ungeachtet der Tatsache, daß sie in Rus­sisch abgefaßt waren. »Hören Sie, wie lange meinen Sie, daß wir den Damm noch halten können? Der Kerl ist total überge­schnappt!«

»Wann fliegt Krassky nach Moskau zurück?«

»Samstagmittag.«

»Grigoriew muß vor seinem Rückflug ein Treffen mit ihm ver­einbaren. Er soll Krassky sagen, er habe eine Sonderbotschaft für ihn. Eine dringende.«

»Klar«, sagte Toby. »Klar, George.« Und damit hatte es sich.

Wo weilte George in seinen Gedanken? fragte sich Toby, wäh­rend er Smiley wieder einmal in der Menge verschwinden sah. Karlas Instruktionen an Grigoriew schienen Smiley aus dem Häuschen gebracht zu haben. »Ich war eingeklemmt zwischen einem komplett Schwachsinnigen und einem total Depressiven«, lautet Tobys Urteil über diese aufreibenden Tage.

Während Toby wenigstens über die Flausen seines Herrn und seines Agenten stöhnen konnte, hatte Smiley nichts Gleichwer­tiges zum Zeitvertreib, und dieser Mangel schien ihm zu schaffen zu machen. Am Donnerstag fuhr er mit der Bahn nach Zürich und aß in der Kronenhalle mit Peter Guillam zu Mittag, der auf Saul Enderbys Order über London angeflogen war. Ihre Unter­haltung war reserviert, und das nicht nur aus Sicherheitsgrün­den. Guillam hatte, wie er sagte, bei seinem Londoner Aufent­halt aus eigenem Antrieb Ann aufgesucht und sei nun gespannt zu erfahren, ob er ihr irgendeine Botschaft übermitteln könne? Smiley sagte eisig, daß es nichts zu übermitteln gebe, und ließ Guillam etwas zuteil werden, was, soweit der sich zurückerin­nern konnte, einem Anschnauzer am nächsten kam. Bei anderer Gelegenheit, gab er zu verstehen, würde Guillam vielleicht so freundlich sein, seine verdammten Finger von Smileys Privatan­gelegenheiten zu lassen. Guillam schaltete hastig aufs Geschäftli­che um. Apropos Grigoriew, sagte er. Saul Enderby trage sich mit der Idee, Grigoriew, so wie er war, an die Vettern zu verkau­fen, statt ihn in Sarratt zu bearbeiten. Was meine George dazu? Saul habe so das Gefühl, der Glanz eines höherrangigen russi­schen Überläufers würde den Vettern in Washington einen drin­gend benötigten Auftrieb geben, selbst wenn er nichts zu erzäh­len hätte, während Grigoriew in London sozusagen den zu er­wartenden reinen Wein nur verwässern würde. Was George nun davon halte?