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»Genau«, sagte Smiley.

»Saul hat sich auch gefragt, ob diese Freitagsache wirklich so dringend notwendig war«, sagte Guillam mit offensichtlicher Überwindung.

Smiley hob ein Tischmesser auf und starrte lang auf die Klinge.

»Sie ist ihm seine Karriere wert«, sagte er schließlich mit aufrei­zender Hartnäckigkeit. »Er stiehlt für sie, er lügt für sie, er ris­kiert seinen Hals für sie. Er muß unbedingt wissen, ob sie sich die Fingernägel putzt und das Haar bürstet. Meinen Sie nicht, daß wir verpflichtet sind, sie uns anzuschauen?«

Verpflichtet wem gegenüber? fragte sich Guillam nervös, als er zur Berichterstattung nach London zurückflog. Hatte Smiley gemeint, er sei sich selbst gegenüber dazu verpflichtet? Oder meinte er Karla gegenüber? Aber er war zu vorsichtig, um diese Theorien vor Saul Enderby auszubreiten.

Aus der Ferne gesehen hätte es ein Schloß sein können oder eines dieser Gehöfte, die im Schweizer Weinland auf den Hügelkup­pen kauern, mit Türmchen und Wassergräben, über die über­dachte Brücken zu Innenhöfen führen. Wenn man näher kam, nahm es prosaischere Züge an, mit einer Müllverbrennungsanla­ge, einem Obstgarten und modernen Anbauten, deren Fenster ziemlich klein waren. Am Dorfrand gab ein Schild die Richtung an, pries die ruhige Lage, den Komfort und die Tüchtigkeit des Personals. Der Orden wurde als >interkonfessionell christlich-theosophisch< bezeichnet, und ausländische Patienten seien eine Spezialität des Hauses. Felder und Dächer waren mit altem, schwerem Schnee bedeckt, doch die Straße, auf der Smiley fuhr, war geräumt. Der Tag war makellos weiß, Himmel und Schnee waren zu einer einzigen, unvermessenen Leere verschmolzen. Vom Haus am Eingangstor rief ein finsterer Pförtner telefonisch nach oben, erhielt von irgend jemand die Erlaubnis und winkte Smiley weiter. Ein Parkplatz war >Für Ärzte< und einer >Für Be­sucher, und Smiley stellte seinen Wagen auf dem zweiten ab. Als er auf die Klingel drückte, öffnete ihm eine einfältig aussehende, grau gekleidete Frau, die errötete, bevor Smiley überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Er hörte Krematoriumsmusik, Ge­schirrklappern aus der Küche und menschliche Stimmen, alles durcheinander. Es war ein Haus mit blanken Fußböden und vorhanglosen Fenstern.

»Mutter Felicitas erwartet Sie«, flüsterte Schwester Béatitude scheu.

Ein Schrei würde im ganzen Haus widerhallen, dachte Smiley. Er bemerkte Topfpflanzen, die außer Reichweite standen. Seine Begleiterin schlug kräftig an eine Tür mit der Aufschrift >Büro< und stieß sie dann auf. Die Oberin Felicitas war eine große, tem­peramentvoll wirkende Frau, mit einem Blick von verwirrender Weltlichkeit. Smiley saß ihr gegenüber. Auf ihrem ausladenden Busen ruhte ein reich geschmücktes Kreuz, über das sie beim Sprechen mit ihren breiten Händen strich. Ihr Deutsch war lang­sam und königlich.

»So«, sagte sie. »So, Sie sind also Herr Lachmann, und Herr Lachmann ist ein Bekannter von Herrn Glaser, und Herr Glaser ist diese Woche unpäßlich.« Sie spielte mit diesen Namen, als wüßte sie genau, daß sie falsch waren. »Er war nicht so unpäß­lich, daß er nicht hätte telefonieren können, aber er war so un­päßlich, daß er nicht radfahren konnte. Ist das so?«

Smiley sagte, daß es so sei.

»Bitte, senken Sie nicht Ihre Stimme, nur weil ich eine Nonne bin. Wir betreuen hier ein lärmendes Haus, aber deswegen ist niemand weniger fromm. Sie sehen blaß aus. Haben Sie Grippe?«

»Nein. Nein, ich fühle mich ganz wohl.«

»Nun, dann sind Sie besser dran als Herr Glaser, der an Grippe erkrankt ist. Letztes Jahr hatten wir die ägyptische Grippe, vor­letztes die asiatische Grippe, doch heuer scheint das malheur ganz und gar einheimischen Ursprungs zu sein. Darf ich fragen, ob Herr Lachmann Papiere hat, die ihn ausweisen?«

Smiley reichte ihr eine Schweizer Kennkarte.

»Aber, aber. Ihre Hand zittert ja. Doch Sie haben keine Grippe. Beruf Professor«, las sie laut. »Herr Lachmann stellt sein Licht unter den Scheffel. Herr Lachmann ist Herr Professor Lach­mann. Darf man fragen, in welchem Fach Herr Professor Profes­sor ist?«

»Philologie.«

»So, so. Philologie. Und Herr Glaser, was ist er von Beruf? Er hat es mir gegenüber nie erwähnt.«

»Soviel ich weiß, ist er geschäftlich tätig.«

»Ein Geschäftsmann, der perfekt russisch spricht. Sprechen Sie auch perfekt russisch, Herr Professor?«

»Leider, nein.«

»Aber Sie sind Freunde.« Sie gab ihm die Kennkarte zurück.

»Ein schweizerisch-russischer Geschäftsmann und ein beschei­dener Professor der Philologie sind Freunde. So, so. Hoffen wir, daß es eine fruchtbare Freundschaft ist.«

»Wir sind auch Nachbarn«, sagte Smiley.

»Wir sind alle Nachbarn, Herr Lachmann. Kennen Sie Alex­andra schon?«

»Nein.«

»Junge Mädchen werden in vielen Eigenschaften hierher ge­bracht. Wir haben Patenkinder. Wir haben Mündel. Nichten. Waisen. Vettern und Basen. Tanten, ein paar. Etliche Schwe­stern. Aber Sie würden überrascht sein zu erfahren, wie wenig Töchter es auf der Welt gibt. Wie ist zum Beispiel Herr Glaser mit Alexandra verwandt?«

»Soviel ich weiß, ist er ein Freund von Monsieur Ostrakow.«

»Der in Paris lebt. Aber unsichtbar ist. Genau wie Madame Ostrakowa. Unsichtbar. Wie heute auch Herr Glaser. Sie sehen, wie schwierig es für uns ist, die Welt in den Griff zu bekommen. Wenn wir selbst kaum wissen, wer wir sind, wie können wir dann ihnen sagen, wer sie sind.« Eine Glocke verkündete das Ende der Ruhezeit. »Manchmal lebt sie in Dunkelheit. Manch­mal sieht sie zuviel. Beides ist schmerzlich. Sie ist in Rußland aufgewachsen. Ich weiß nicht, warum. Es ist eine komplizierte Geschichte, voller Kontraste, voller Lücken. Wenn es auch nicht der Grund ihrer Krankheit ist, so ist es doch sicherlich, sagen wir einmal, der äußere Anlaß. Sie glauben wohl nicht, daß Herr Gla­ser der Vater ist?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Haben Sie den unsichtbaren Ostrakow kennen­gelernt? Nein. Existiert der unsichtbare Ostrakow überhaupt? Alexandra behauptet, er sei ein Phantom. Alexandra bildet sich ganz andere Eltern ein. Nun, das tun viele von uns.«

»Darf ich fragen, was Sie ihr über mich erzählt haben?«

»Alles, was ich weiß. Das heißt, nichts. Daß Sie ein Freund von Onkel Anton sind, den sie nicht als ihren Onkel akzeptiert. Daß Onkel Anton krank ist, was sie anscheinend entzückt, aber wahrscheinlich sehr beunruhigt. Ich hab' ihr gesagt, ihr Vater wünsche, daß jemand sie einmal die Woche besuche, aber sie sagte mir, ihr Vater sei ein Bandit und habe ihre Mutter mitten in der Nacht von einem Berg hinabgestürzt. Ich hab' ihr gesagt, sie solle deutsch mit Ihnen sprechen, aber es kann sein, daß sie rus­sisch für besser hält.«

»Ich verstehe«, sagte Smiley.

»Da kann ich Sie nur beglückwünschen«, gab Mutter Felicitas zurück. »Ich kann nicht das gleiche von mir behaupten.«

Alexandra trat ein, und er sah zuerst nur ihre Augen: so klar, so schutzlos. Er hatte sie sich aus irgendeinem Grund größer vorge­stellt. Ihre Lippen waren voll in der Mitte, doch an den Winkeln bereits ausgedünnt und zu beweglich, und ihr Lächeln war von gefährlicher Entrücktheit. Mutter Felicitas befahl ihr, sich zu setzen, sagte etwas auf Russisch, küßte sie auf das flachsfarbene Haar und verließ das Zimmer. Sie hörten ihre Schlüssel klirren, als sie den Flur hinunterging, hörten, wie sie auf Französisch eine der Schwestern anherrschte, sie möge unverzüglich diesen Dreck aufputzen. Alexandra trug einen grünen Hänger mit lan­gen, an den Handgelenken enganliegenden Ärmeln und eine Strickweste, die sie wie ein Cape um die Schultern geworfen hat­te. Sie schien ihre Kleidung mehr herumzutragen als zu tragen, als hätte jemand sie für dieses Treffen angezogen.