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»Ist Anton tot?« fragte sie, und Smiley bemerkte, daß zwischen dem Ausdruck auf ihrem Gesicht und den Gedanken in ihrem Kopf keine Verbindung bestand.

»Nein, Anton hat eine böse Grippe«, antwortete er.

»Anton sagt, er sei mein Onkel, aber das stimmt nicht«, erklärte sie. Ihr Deutsch war gut, und er fragte sich, ob sie es wirklich, wie Karla zu Grigoriew gesagt hatte, von ihrer Mutter mitbe­kommen oder ob sie die Sprachbegabung ihres Vaters geerbt habe, oder beides. »Er behauptet auch, keinen Wagen zu ha­ben.« Wie einst ihr Vater, sah sie ihn unbewegt und unbeteiligt an. »Wo ist Ihre Liste?« fragte sie. »Anton bringt immer eine Li­ste mit.«

»Oh, ich habe meine Fragen im Kopf.«

»Es ist verboten, Fragen zu stellen, ohne eine Liste zu haben. Fragen aus dem Kopf sind von meinem Vater ganz und gar ver­boten.«

»Wer ist Ihr Vater?« fragte Smiley.

Eine Zeitlang sah er wieder nur ihre Augen, die ihn wie die einer Blinden aus ihrer unzugänglichen Einsamkeit anstarrten. Sie hatte eine Rolle Scotchtape vom Schreibtisch der Mutter Felicitas aufgenommen und strich mit den Fingern leicht über die glän­zende Oberfläche.

»Ich habe Ihren Wagen gesehen«, sagte sie. »BE bedeutet Bern.«

»Stimmt«, sagte Smiley.

»Was für einen Wagen hat Anton?«

»Einen Mercedes. Einen schwarzen. Sehr groß.«

»Wieviel hat er dafür bezahlt?«

»Er hat ihn gebraucht gekauft. An die fünftausend Franken würde ich sagen.«

»Warum kommt er dann immer per Fahrrad zu mir?«

»Vielleicht braucht er ein bißchen körperliche Bewegung.«

»Nein«, sagte sie. »Er hat ein Geheimnis.«

»Haben Sie ein Geheimnis, Alexandra?« fragte Smiley.

Sie hörte seine Frage, lächelte darüber und nickte ihm mehrmals zu, als sei er weit von ihr entfernt. »Mein Geheimnis heißt Tatja­na.«

»Ein guter Name«, sagte Smiley. »Wie sind Sie dazu gekom­men?«

Sie hob den Kopf und lächelte strahlend die Ikone an der Wand an. »Es ist verboten, darüber zu sprechen. Wenn man darüber spricht, glaubt einem niemand, und man wird in eine Klinik ge­bracht.«

»Aber Sie sind ja bereits in einer Klinik«, bemerkte Smiley.

Sie sprach nicht lauter, nur schneller. Dabei war sie so völlig reglos, daß sie nicht einmal zwischen den Wörtern Atem zu holen schien. Ihre Klarsichtigkeit und ihre Höflichkeit hatten etwas Unheimliches. Sie respektiere seine Freundlichkeit, sagte sie, aber sie wisse, daß er ein äußerst gefährlicher Mann sei, gefährli­cher als Lehrer oder Polizisten. Herr Doktor Rüedi habe das Ei­gentum und die Gefängnisse erfunden und viele der geschickten Argumente, die es der Welt erlaubten, ihre Lügen völlig auszu­leben, sagte sie. Mutter Felicitas sei zu nahe an Gott, sie begreife nicht, daß Gott jemand war, dem man die Peitsche und die Spo­ren geben müsse wie einem Pferd, damit er einen in die richtige Richtung trüge:

»Aber Sie, Herr Lachmann, repräsentieren die Vergebung der Obrigkeit. Ja, das wird wohl leider so sein.«

Sie seufzte und bedachte ihn mit einem müden, nachsichtigen Lächeln, doch als er auf den Tisch sah, bemerkte er, daß sie ihren Daumen gepackt hatte und ihn zurückbog, bis er fast zu brechen schien.

»Vielleicht sind Sie mein Vater, Herr Lachmann«, meinte sie lä­chelnd.

»Nein, leider, ich habe keine Kinder«, antwortete Smiley.

»Sind Sie Gott?«

»Nein, ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Mensch.«

»Mutter Felicitas sagt, in jedem gewöhnlichen Menschen steckt ein Teil, der Gott ist.«

Diesmal ließ Smiley mit der Antwort lange auf sich warten. Er machte den Mund auf und schloß ihn dann wieder mit einem ganz uncharakteristischen Zögern.

»Das hab' ich auch sagen hören«, antwortete er und sah dabei ei­nen Augenblick von ihr weg.

»Sie müssen mich fragen, ob ich mich besser fühle.«

»Fühlen Sie sich besser, Alexandra?

»Ich heiße Tatjana«, sagte sie.

»Wie fühlt sich dann Tatjana?«

Sie lachte. Ihre Augen glänzten unnatürlich. »Tatjana ist die Tochter eines Mannes, der so wichtig ist, daß es ihn gar nicht gibt«, sagte sie. »Er herrscht über ganz Rußland, aber es gibt ihn nicht. Wenn irgendwelche Leute sie verhaften, dann sorgt ihr Vater dafür, daß sie wieder frei kommt. Es gibt ihn nicht, aber jeder fürchtet ihn. Tatjana gibt es auch nicht«, fügte sie hinzu.

»Es gibt nur Alexandra.«

»Und wie steht es mit Tatjanas Mutter?«

»Sie ist bestraft worden«, sagte Alexandra ruhig, wobei sie diese Information mehr den Ikonen anvertraute als Smiley. »Sie ist der Geschichte nicht gefolgt. Das heißt, sie glaubte, die Geschichte habe einen falschen Lauf genommen. Sie irrte. Das Volk sollte nie versuchen, die Geschichte zu ändern. Es ist Sache der Ge­schichte, das Volk zu ändern. Ich möchte, daß Sie mich mitneh­men, bitte. Ich möchte aus dieser Klinik heraus.«

Ihre Hände rangen wütend miteinander, während sie weiterhin die Ikone anlächelte.

»Hat Tatjana je ihren Vater kennengelernt?«

»Ein kleiner Mann hat die Kinder immer auf ihrem Weg zur Schule beobachtet«, antwortete sie. Er wartete, aber sie sprach nicht weiter.

»Und dann?« fragte er.

»Von einem Wagen aus. Er hat immer das Fenster herunterge­kurbelt und nur mich angeschaut.«

»Haben auch Sie ihn angeschaut?«

»Natürlich. Wie könnte ich sonst wissen, daß er mich ange­schaut hat?«

»Wie sah er aus? War er groß? War er klein? Hat er gelächelt?«

»Er rauchte. Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an. Mutter Felici­tas genehmigt sich auch ab und zu eine Zigarette. Aber das ist nur menschlich, nicht wahr? Rauchen beruhigt das Gewissen, wie man mir gesagt hat.«

Sie hatte auf die Klingel gedrückt. Die Hand ausgestreckt und lange darauf gedrückt. Er hörte wieder das Klirren der Schlüssel, als Mutter Felicitas den teppichlosen Gang herunterkam, hörte sie mit den Füßen scharren, als sie vor der Tür stehenblieb, um aufzusperren, hörte die Geräusche, die jedem Gefängnis der Welt zueigen sind.

»Ich möchte mit Ihnen in Ihrem Wagen wegfahren«, sagte Alex­andra.

Smiley beglich die Rechnung, und Alexandra sah zu, wie er die Scheine unter der Lampe hinzählte, genau wie Onkel Anton dies immer tat. Mutter Felicitas bemerkte Alexandras gespannten Blick, und vielleicht witterte sie Ungemach, denn sie blickte Smiley scharf an, als verdächtige sie ihn einer Ungehörigkeit. Alexandra begleitete ihn zur Tür, war Schwester Béatitude beim öffnen behilflich, schüttelte Smiley mit Grandezza die Hand, wobei sie den Ellbogen abspreizte und das Knie des vorgestellten Beins beugte. Sie versuchte, ihm die Hand zu küssen, doch Schwester Beatitude hinderte sie daran. Sie schaute ihm auf dem Weg zum Wagen nach und begann zu winken. Er war bereits am Anfahren, als er sie aus nächster Nähe schreien hörte und sah, daß sie versuchte, die Wagentür zu öffnen, um mit ihm zu kom­men. Schwester Beatitude riß sie vom Auto und zog die unauf­hörlich Schreiende ins Haus zurück.

Eine halbe Stunde später in Thun, in demselben Cafe, von dem aus Smiley vor einer Woche Grigoriews Gang zur Bank beob­achtet hatte, händigte er Toby wortlos den von ihm vorbereite­ten Brief aus. Grigoriew solle ihn am heute abend Krassky ge­ben, sagte er.

»Grigoriew möchte diese Nacht abspringen«, wandte Toby ein.

Smiley schrie. Zum erstenmal in seinem Leben schrie er. Er riß den Mund sehr weit auf, er schrie, und das ganze Cafe fuhr hoch - das heißt, das Mädchen hinter der Theke sah von ihren Heirats­anzeigen auf, und von den vier Kartenspielern in der Ecke drehte mindestens einer den Kopf. »Noch nicht!«