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Und um zu zeigen, daß er sich wieder in der Gewalt hatte, wie­derholte er ruhig: »Noch nicht, Toby. Verzeihen Sie bitte. Noch nicht.«

Von dem Brief, den Smiley über Grigoriew an Karla schickte, existiert keine Kopie, ein Manko, das vielleicht von Smiley beabsichtigt war, indes kann kaum ein Zweifel über den Tenor des Schreibens bestehen, war doch Karla, wie er selbst von sich ge­sagt hatte, ein erklärter Verfechter der Kunst dessen, was er Un­terdrucksetzen nannte. Smiley dürfte die nackten Tatsachen vorgebracht haben: daß Alexandra unbestreitbar seine Tochter sei und die seiner ehemaligen und jetzt toten Geliebten, deren anti-sowjetische Einstellung amtsbekannt war; daß er Alexan­dras illegale Ausreise aus der Sowjetunion bewerkstelligt habe, unter dem Vorwand, sie sei seine Geheimagentin; daß er öffent­liche Gelder und Einrichtungen mißbraucht habe; daß er zwei Morde und vielleicht auch die mutmaßliche offizielle Hinrich­tung von Kirow organisiert habe, um sein verbrecherisches Vor­haben zu decken. Smiley dürfte auch darauf hingewiesen haben, daß angesichts Karlas prekärer Stellung innerhalb der Moskauer Zentrale die angehäufte Beweislast mehr als genüge, um seine Liquidierung durch die Kollegiumsgenossen zu sichern; und daß, falls dies eintreten sollte, die Zukunft seiner Tochter im We­sten - wo sie unter falschen Angaben weilte - äußerst unsicher sein würde, um es milde auszudrücken. Es würde kein Geld für sie da sein, und aus Alexandra würde eine auf Lebenszeit zum Exil verdammte Kranke werden, die man von Spital zu Spital schleppt, ohne Freunde, ohne ordentliche Papiere, völlig mittel­los. Im schlimmsten aller denkbaren Fälle würde sie nach Ruß­land zurückgebracht und dem vollen Zorn der Feinde ihres Va­ters ausgeliefert werden.

Nach der Peitsche bot Smiley das Zuckerbrot, wie vor mehr als zwanzig Jahren in Delhi: Retten Sie Ihre Haut, kommen Sie zu uns, sagen Sie uns, was Sie wissen, und wir werden für Sie sor­gen. Ein klares Wiederholungsspiel, sagte später Enderby, der sportliche Metaphern liebte. Er dürfte Karla auch versprochen haben, daß man ihn nicht wegen Beihilfe zum Mord an Wladimir belangen würde, und es gibt Beweise dafür, daß Enderby über seine deutsche Verbindungsstelle die gleiche Zusicherung der Straffreiheit im Hinblick auf den Mord an Otto Leipzig erwirk­te. Ganz zweifellos stellte Smiley auch noch allgemeine Garantien bezüglich Alexandras Zukunft im Westen in Aussicht - Be­handlung, Pflege und, wenn nötig, Staatsbürgerschaft. Schlug er wieder die Saite der Seelenverwandtschaft an, wie damals in De­lhi? Appellierte er an Karlas Menschlichkeit, die jetzt so demon­strativ zur Schau stand? Versetzte er das alles mit Argumenten, die Karla das Gefühl der Demütigung ersparen und, angesichts seines Stolzes, vor einem Akt der Selbstzerstörung bewahren sollten?

Ganz sicher gab er Karla wenig Zeit, sich zu entschließen. Einer der Lehrsätze über die Ausübung von Druck lautet, wie auch Karla sehr wohl wußte: Zeit zum Nachdenken ist gefährlich. Nur daß in diesem Fall Anlaß besteht zu vermuten, daß die Zeit auch für Smiley gefährlich war, wenn auch aus völlig anderen Gründen: Er hätte in elfter Stunde zurückschrecken können. Ausschließlich der unmittelbare Zwang zum Handeln kann, nach Sarratt-Überlieferung, das Wild dazu bringen, seine Scheu abzuwerfen und sich jedem angeborenen oder anerzogenen In­stinkt zuwider ins Unbekannte zu stürzen. Das gleiche mag bei dieser Gelegenheit wohl auch für den Jäger gegolten haben.

27

Es ist, als setze man sein ganzes Geld auf Schwarz, dachte Guil­lam, als er aus dem Fenster des Cafes starrte: Alles, was man auf der Welt hat, seine Frau, sein ungeborenes Kind. Und dann war­tet, Stunde um Stunde, bis der Croupier die Scheibe in Bewe­gung setzt.

Er hatte Berlin gekannt, als es noch die Welthauptstadt des Kal­ten Krieges war, als jeder Übergang von Ost nach West einem chirurgischen Eingriff gleichkam. Er erinnerte sich, wie in Nächten wie dieser Scharen von Berliner Polizisten und alliierter Soldaten immer unter den Bogenlampen herumstanden, füße­stapfend auf die Kälte fluchten, das Gewehr von einer Schulter auf die andere warfen und sich gegenseitig frostige Atemwolken ins Gesicht bliesen. Er erinnerte sich, wie die Tanks mit laufen­dem Motor warteten, die Kanonenläufe in Imponiergebärde nach drüben gerichtet. Er erinnerte sich an das plötzliche Auf­heulen von Alarmsirenen und an die Blitzfahrt zur Bernauer­straße oder wo immer der letzte Fluchtversuch stattgefunden hatte. Er erinnerte sich an das Ausfahren von Feuerwehrleitern, die Befehle, zurückzuschießen; nicht zurückzuschießen; an die Toten, einige davon Agenten. Doch nach der heutigen Nacht, das wußte er, würde er sich an die Stadt nur noch als etwas erin­nern, das so dunkel war, daß man nicht ohne Taschenlampe auf die Straße gehen wollte, so still, daß man das Spannen eines Ge­wehrhahns über den Fluß herüber hörte.

»Was wird er als Tarnung benützen?« fragte er.

Smiley saß ihm an dem kleinen Plastiktisch gegenüber, an seinem rechten Ellbogen stand eine Tasse mit kaltem Kaffee. Er sah sehr klein aus in seinem Mantel.

»Etwas Bescheidenes«, sagte Smiley. »Etwas Passendes. Hier kommen meist nur betagte Rentner herüber, nehme ich an.« Er rauchte eine von Guillams Zigaretten, die seine gesammelte Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen schien.

»Was um alles auf der Welt wollen denn Rentner hier?« fragte Guillam.

»Manche arbeiten. Manche besuchen Verwandte. Ich habe mich nicht sehr eingehend erkundigt, fürchte ich.«

Guillam schien diese Erklärung nicht zu befriedigen.

»Wir Rentner bleiben am liebsten unter uns«, fügte Smiley in dem kläglichen Versuch, einen Scherz zu machen, hinzu.

»Wem sagen Sie das«, sagte Guillam.

Das Cafe lag im türkischen Viertel, denn die Türken sind jetzt die armen Weißen von West-Berlin, und Wohnungen sind am miesesten und am billigsten in der Nähe der Mauer. Smiley und Guillam waren die einzigen Fremden. An einem langen Tisch saß eine ganze türkische Familie, kaute Fladenbrot und trank Kaffee und Coca Cola. Die Kinder hatten kahlgeschorene Schädel und die großen, verwunderten Augen von Flüchtlingen. Islamitische Musik ertönte von einem alten Bandgerät. Farbige Plastikbänder hingen von dem aus einer Hartfaserplatte geschnittenen islami­tischen Türbogen.

Guillam wandte den Blick wieder dem Fenster und der Brücke zu. Zuerst kamen die Pfeiler der Hochbahn, dann das alte Back­steinhaus, das von Sam Collins diskret als Beobachtungszentrale requiriert worden war. Seine Leute hatten in den letzten beiden Tagen heimlich darin Stellung bezogen. Dann kam der Lichthof von Bogenlampen und dahinter eine Absperrung, ein MG-Stand und schließlich die Brücke. Die Brücke war nur für Fußgänger, und der einzige Weg darüber bestand aus einem stahlumzäunten, laufgitterartigen Korridor, der manchmal einer, manchmal drei Personen Durchgang gewährte. Gelegentlich kam jemand mit beflissen harmloser Miene und steten Schritts herüber, bemüht, den Wachturm nicht zu beunruhigen, und trat dann in den Lichtkreis der Bogenlampen, wenn er den Westen erreicht hatte. Bei Tageslicht war der Laufgang grau, nachts aus irgendeinem Grund gelb und seltsam leuchtend. Der MG-Stand befand sich einen oder zwei Meter innerhalb der Grenze, sein Dach über­ragte nur knapp die Absperrung. Beherrscht wurde das Ganze von dem Turm, einem eisenschwarzen, rechteckigen Gebilde in der Mitte der Brücke. Selbst der Schnee hielt sich von ihm fern. Er lag auf den Betonzähnen, die jeglichen Autoverkehr verhin­derten, er wirbelte um die Lampen und den MG-Stand und ließ sich malerisch auf das Kopfsteinpflaster nieder; doch der Wach­turm war tabu, als ob nicht einmal der Schnee sich ihm aus eige­nem freien Willen nähern wollte. Kurz vor den Lampen verengte sich der Laufgang zu einem letzten Gatter und einem Pferch. Das Gatter, sagte Toby, konnte im nu vom Inneren des MG-Stands aus automatisch geschlossen werden.