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Es war zehn Uhr dreißig, doch es hätte ebensogut drei Uhr mor­gens sein können, denn an der Grenze entlang geht Berlin mit Einbruch der Dunkelheit schlafen. Im Landesinneren mag die Inselstadt plaudern und trinken und huren und ihr Geld verpul­vern; die Leuchtreklamen und die wiederaufgebauten Kirchen und Konferenzhallen mögen glitzern wie ein Rummelplatz: Auf den dunklen Grenzstreifen schweigt das Leben ab sieben Uhr abends. Dicht neben den Bogenlampen stand ein Christbaum, aber nur die obere Hälfte war mit Lichtern versehen, denn nur die obere Hälfte konnte man vom anderen Ufer aus sehen. Es ist ein Ort, der keinen Kompromiß kennt, dachte Guillam, keinen dritten Weg. Welche Vorbehalte er auch gelegentlich gegenüber der westlichen Freiheit gehegt haben mochte, an dieser Grenze wurden sie, wie die meisten anderen Dinge, null und nichtig. »George«, sagte Guillam leise und warf Smiley einen fragenden Blick zu.

Ein Arbeiter war in den Lichtkreis getreten. Er schien förmlich hineinzuwachsen, wie alle, wenn sie aus dem Laufgang kamen: Als sei eine Last von ihren Schultern gefallen. Er trug eine kleine Mappe und etwas, das wie eine Eisenbahnerlampe aussah. Er war von schmalem Wuchs. Doch Smiley war, wenn er den Mann überhaupt bemerkt hatte, wieder zu den Revers seines braunen Mantels und zu seinen einsamen, in der Ferne weilenden Gedan­ken zurückgekehrt. »Wenn er kommt, kommt er pünktlich«, hatte er gesagt. Warum müssen wir dann zwei Stunden früher hier sein? war Guillam versucht zu fragen. Warum sitzen wir hier wie zwei Fremde, trinken aus winzigen Tassen süßen Kaf­fee, der vom Dampf der elenden türkischen Küche durchtränkt ist und reden nichtssagendes Zeugs? Aber er kannte die Antwort bereits. Weil wir dazuverpflichtet sind, würde Smiley gesagt ha­ben, wenn Smiley in gesprächiger Stimmung gewesen wäre. Weil wir verpflichtet sind, uns zu sorgen und zu warten, verpflichtet, die Bemühungen eines Mannes zu honorieren, der dem System entrinnen will, das er mitgeholfen hat zu schaffen. Denn solange er versucht, uns zu erreichen, sind wir seine Freunde. Niemand sonst ist auf seiner Seite.

Er kommt, dachte Guillam. Er kommt nicht. Er kommt viel­leicht. Wenn das kein Gebet ist, dachte er, was ist dann eins?

»Noch einen Kaffee, George?«

»Nein, danke Peter; nein, ich glaube nicht. Nein.«

»Es scheint auch so etwas wie Suppe zu geben. Falls das nicht der Kaffee war.«

»Vielen Dank, ich glaube, ich habe alles zu mir genommen, was in mich hineingeht«, sagte Smiley im Plauderton, so, als wolle er jedem eventuellen Lauscher die Möglichkeit geben, auf seine Kosten zu kommen.

»Vielleicht sollten wir etwas bestellen, nur einfach als Miete«, sagte Guillam.

»Miete? Verzeihung. Natürlich. Weiß Gott, wovon sie leben.«

Guillam bestellte zwei weitere Kaffees, die er sofort bezahlte. Er tat dies jedesmal, für den Fall, daß sie schnell weg müßten.

Komm George zuliebe, dachte er, mir zuliebe. Komm ver­dammt nochmal uns allen zuliebe, damit wir die unmögliche Ernte einbringen können, von der wir schon so lange träumen.

»Wann haben Sie gesagt, daß das Baby fällig ist, Peter?«

»Im März.«

»Ah, im März. Wie werden Sie es nennen?«

»Das haben wir uns eigentlich noch nicht überlegt.«

Im Licht eines Möbelgeschäftes, das Schmiedeeisen-Imitatio­nen, Brokat und falsche Zinnkrüge und Musketen verkaufte, bemerkte Guillam die vermummte Gestalt Toby Esterhases, der unter seiner balkanesischen Pelzmütze heraus angelegentlich das Warenangebot musterte. Toby und sein Team hielten die Stra­ßen besetzt, Sam Collins den Beobachtungsposten: So war es ab­gemacht. Toby hatte darauf bestanden, daß Taxis als Fluchtwa­gen genommen wurden, und da waren sie, drei an der Zahl, ge­bührend schäbig, in der Dunkelheit unter den Bogen der Hoch­bahn, an ihren Windschutzscheiben steckten Schilder mit der Aufschrift >Außer Dienst<, und ihre Fahrer lungerten am Imbiß­stand und aßen Würstchen mit süßem Senf von Papiertellern. Der Ort ist ein Minenfeld, Peter, hatte Toby gewarnt. Türken, Griechen, Jugoslawen, ein Haufen Gauner - selbst die Katzen sind elektrisch geladen, ohne Spaß.

Nirgends auch nur ein Flüstern, hatte Smiley befohlen. Kein Mucks, Peter. Sagen Sie das Collins.

Komm schon, dachte Guillam beschwörend. Wir stehen uns für dich alle die Beine in den Bauch. Komm schon.

Von Tobys Rücken hob Guillam den Blick langsam bis zum obersten Fenster des alten Hauses, wo Collins Beobachtungspo­sten war. Guillam hatte sein Berlin-Soll erfüllt, war ein dut­zendmal mit dabei gewesen. Die Fernrohre und Kameras, die Richtmikrophone, der ganze nutzlose Trödel, der angeblich das Warten leichter machte; das Knistern der Funkgeräte, der Kaf­fee- und Tabakgestank; die Klappbetten. Er stellte sich den ab­kommandierten westdeutschen Polizisten vor, der keine Ah­nung hatte, was er eigentlich hier sollte, und der würde bleiben müssen, bis zum erfolgreichen Abschluß oder zum Abbruch der Operation - der Mann, der die Brücke auswendig kannte, die re­gelmäßigen von den gelegentlichen Grenzgängern zu unter­scheiden vermochte und das geringste böse Omen auf der Stelle ausmachen konnte: die lautlose Wachverstärkung, die Vopo-Scharfschützen, die unauffällig in Stellung gingen.

Und wenn sie ihn erschießen? dachte Guillam. Wenn sie ihn ver­haften? Wenn sie ihn, nach bewährter Art, auf dem Laufgang, keine zwei Meter vom Lichtkreis der Lampen entfernt, mit dem Gesicht nach unten verbluten lassen?

Komm schon, dachte er ein bißchen weniger zuversichtlich und richtete seine Gebete an den schwarzen Horizont im Osten.

Komm trotz allem.

Ein dünner, sehr heller Lichtstrahl huschte über das oberste, nach Westen gehende Fenster des Beobachterhauses und brachte Guillam auf die Beine. Er drehte sich um und sah, daß Smiley be­reits auf dem halben Weg zur Tür war. Toby Esterhase erwartete sie auf dem Gehsteig.

»Es ist nur eine Möglichkeit, George«, sagte er im Ton eines Mannes, der jemand eine Enttäuschung ersparen will. »Nur eine schmale Chance, aber es könnte unser Mann sein.«

Sie folgten ihm wortlos. Die Kälte war grimmig.

Sie gingen an einem Schneiderladen vorbei, in dem zwei dunkel­haarige Mädchen nadelten. Sie gingen an Plakaten vorbei, die bil­ligen Skiurlaub, Tod den Faschisten und Tod dem Schah anbo­ten. Die Kälte nahm ihnen den Atem. Als Guillam wegen des wirbelnden Schnees den Kopf zur Seite drehte, sah er einen Abenteuerspielplatz mit alten Eisenbahnschlafwagen. Sie gingen in der pechschwarzen, frostigen Dunkelheit an düsteren, toten Gebäuden entlang, dann nach rechts über die gepflasterte Straße zum Flußufer, wo ein alter, kugelsicherer Holzunterstand mit Schießscharten war, von dem aus man die ganze Länge der Brücke überblicken konnte. Zu ihrer Linken hob sich ein gro­ßes, mit Stacheldraht umwickeltes Holzkreuz schwarz gegen das feindselige Ufer ab, erinnerte an einen Unbekannten, der es nicht ganz geschafft hatte.

Toby zog schweigend einen Feldstecher aus dem Mantel und reichte ihn Smiley.

»George. Hören Sie. Viel Glück, okay?«

Tobys Hand schloß sich kurz um Guillams Arm. Dann ver­schwand er wieder in der Dunkelheit.

Die Luft im Unterstand war stickig und roch nach vermodertem Laub. Smiley kauerte sich an die Schießscharte, der Saum seines Tweedmantels schleifte über den Schmutz, während er die Szene vor sich betrachtete, als spielte sich in ihr sein eigenes langes Le­ben ab. Der Fluß war breit und langsam und nebelig vor Kälte. Bogenlampen ließen ihre Strahlen, in denen der Schnee tanzte, darüber spielen. Die Brücke ruhte auf mächtigen Steinpfeilern, sechs oder acht an der Zahl, die sich, wo sie ins Wasser tauchten, zu klobigen Sockeln verdickten. Zwischen den Pfeilern rundeten sich Bogen, von denen einer, der mittlere, so begradigt war, daß Schiffe durchfahren konnten. Doch das einzige Schiff war ein graues, am Ostufer festgemachtes Patrouillenboot, und das ein­zige Handelsgut, das es zu bieten hatte, war der Tod. Hinter der Brücke stand, wie ihr eigener, riesiger Schatten, die Bahnüber­führung, aber wie der Fluß war auch sie stillgelegt, es fuhren keine Züge mehr darüber. Die Lagerhäuser am fernen Ufer wirk­ten monströs, wie die Gefängnisschiffe eines vergangenen, bar­barischen Zeitalters, und die Brücke mit ihrem gelben Laufgang schien auf halber Höhe aus ihnen herauszuspringen, wie ein phantastischer Lichtweg aus der Dunkelheit. Von seinem strate­gischen Punkt aus konnte Smiley mit dem Feldstecher die ganze Strecke überblicken, von dem flutlichtüberstrahlten, weißen Ba­rackenbau am Ostufer bis zum schwarzen Wachturm am Ende der Steigung und dann, leicht bergab nach der westlichen Seite, bis zum Pferch, dem MG-Stand, der das Gatter überwachte, und schließlich dem Lichthof der Bogenlampen.