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Guillam stand knapp hinter ihm, doch Guillam hätte ebensogut in Paris sein können, so wenig war Smiley sich seiner Anwesen­heit bewußt: Er hatte gesehen, wie die einsame, schwarze Gestalt zu ihrem Gang ansetzte; er hatte das Aufglühen des Zigaretten­stummels gesehen, als der Mann einen letzten Zug tat; den Fun­kenregen, als er ihn über die Eisenumzäunung des Laufgangs ins Wasser schnippte. Ein kleiner Mann, in einem halblangen Ar­beitskittel, eine Werkzeugtasche über die schmale Brust ge­hängt, der weder schnell noch langsam ging, sondern eben so wie ein Mann, der gewohnt ist, viel zu gehen. Ein kleiner Mann, der Körper ein bißchen zu groß im Verhältnis zu den Beinen, bar­häuptig trotz des Schnees. Das ist alles, dachte er: Ein kleiner Mann geht über eine Brücke.

»Ist er es?« flüsterte Guillam. »George, sagen Sie. Ist es Karla?«

Komm nicht, dachte Smiley. Schießt doch, dachte Smiley und sprach zu Karlas Leuten, nicht zu den seinen. Der Gedanke, daß dieses schmächtige Wesen dabei war, sich von der unüberwindli­chen Festung in seinem Rücken abzuschneiden, dieses Vorher­wissen war ihm plötzlich unerträglich. Schießt ihn nieder vom Wachturm aus, vom MG-Stand, von dem weißen Barackenbau, von dem Ausguck des Lagerhausgefängnisses aus, schlagt das Gatter vor ihm zu, legt ihn um, euren Verräter, tötet ihn! In sei­ner fieberhaften Phantasie sah er, wie die Szene sich abspielte: Die Moskauer Zentrale entdeckt in letzter Minute Karlas Schandtat und telefoniert an die Grenze: >Haltet ihn auf, um je­den Preis.< Und schließlich die Schüsse, nie zuviele, gerade ge­nug, um einen Mann ein- oder zweimal zu treffen. Dann das Abwarten.

»Er ist es!« flüsterte Guillam. Er hatte das Fernglas aus Smileys willenloser Hand genommen. »Es ist derselbe Mann. Das Foto, das an Ihrer Wand im Circus hing. George, Sie Zauberkünstler!« Doch Smiley sah im Geist nur die Suchscheinwerfer der Vopos, die Karla einfingen wie Autoscheinwerfer einen Hasen, so schwarz vor dem weißen Hintergrund des Schnees, sah Karlas hoffnungslosen Altmännerlauf, bevor die Kugeln ihn von den Beinen rissen und wie eine Stoffpuppe purzeln ließen. Wie Guil­lam hatte Smiley das alles schon einmal miterlebt. Er schaute wieder über den Fluß in die Dunkelheit, und ein frevlerischer Schwindel erfaßte ihn, als das Böse, das er bekämpft hatte, nach ihm zu greifen, von ihm Besitz zu nehmen schien, trotz seiner Gegenwehr auf ihn Anspruch erhob und ihn auch einen Verräter nannte; ihn verspottete und zugleich seinen Verrat guthieß. Über Karla war der Fluch von Smileys Mitgefühl gekommen; über Smiley der Fluch von Karlas Fanatismus: Ich habe ihn mit den Waffen zerstört, die ich verabscheute, mit den seinen. Wir haben einer des anderen Grenze überschritten, wir sind Nie­mande in diesem Niemandsland.

»Nur immer weitergehen«, murmelte Guillam. »Nur immer weitergehen, laß dich durch nichts aufhalten.«

Als er sich der Schwärze des Wachturms näherte, machte Karla ein paar kürzere Schritte, und einen Augenblick lang dachte Smi­ley wirklich, er habe sich eines anderen besonnen und wolle sich den Ostdeutschen ergeben. Dann sah er das Züngeln einer Flamme, als Karla sich eine neue Zigarette anzündete. Mit einem Zündholz oder mit einem Feuerzeug? fragte sich Smiley. Für George von Ann in aller Liebe.

»Mann, der hat Nerven!« sagte Guillam.

Die kleine Gestalt setzte sich wieder in Bewegung, doch langsa­mer, als sei sie müde geworden. Er facht seinen Mut für den letz­ten Schritt an, dachte Smiley, oder er versucht, seinen Mut zu zügeln. Er dachte an Waldimir und an Otto Leipzig und an den toten Kirow, er dachte an Haydon und an die Trümmer seines eigenen Lebens; er dachte an Ann, die Karlas listige und Hay­dons berechnende Liebesmühe in seinen Augen für immer ge­zeichnet hatte. Er sagte sich in seiner Verzweiflung eine ganze Liste von Verbrechen vor- die Folterungen, die Morde, die end­lose Kette der Korruption -, die dem einsamen Fußgänger auf der Brücke anzulasten waren, doch die Last glitt von den schmächtigen Schultern des Mannes: Er wollte die Beute nicht, die mit diesen Methoden erjagt worden war. Und wieder hatte Smiley den Eindruck, daß der gezackte Horizont ihn zu sich hinüberwinkte, ihn im Inferno des wirbelnden Schnees ansog wie ein schwindelerregender Abgrund. Eine weitere Sekunde stand er schwankend am Rand des schwelenden Flusses.

Sie hatten sich in Bewegung gesetzt und gingen nun den Treidel­weg entlang, Guillam voraus, Smiley widerstrebend hinterher. Der Lichtkreis lag vor ihnen, wurde immer größer, je mehr sie sich ihm näherten. Wie zwei gewöhnliche Fußgänger, hatte Toby gesagt. Gehen Sie einfach zur Brücke und warten Sie, das ist völlig normal. Aus der Dunkelheit um ihn hörte Smiley flüsternde Stimmen und das flüchtige, gedämpfte Geräusch von hastigen, mit Nervosität geladenen Bewegungen. George, flüsterte je­mand. George. In einer gelben Telefonzelle hob eine unbekannte Gestalt die Hand zu einem diskreten Gruß, und er hörte, wie ihm durch die nasse, gefrierende Luft das Wort Sieg zuge­schmuggelt wurde. Der Schnee trübte seine Gläser, und er hatte Mühe zu sehen. Hinter den Fenstern des Beobachtungspostens zu ihrer Rechten brannte kein Licht. Vor dem Hauseingang be­merkte Smiley einen geparkten Kastenwagen und stellte fest, daß es ein Berliner Postauto war, Tobys Lieblingsmarke. Guillam blieb zurück. Smiley hörte so etwas wie >Preis einheimsen<. Sie hatten den Saum des Lichtkreises erreicht. Ein orangefarbener Wall entzog Brücke und Absperrung ihren Blicken. Doch auch sie waren außerhalb der Sichtlinie des Schilderhauses. Toby Ester­hase stand, über dem Christbaum schwebend, auf dem Beobach­tungsgerüst und mimte, mit einem Fernglas bewaffnet, gelassen den Kalten-Krieg-Touristen, sekundiert von einer stämmigen Observantin. Ein alter Anschlag machte ihnen klar, daß sie auf ei­gene Gefahr hier standen. Auf der zerstörten Backsteinüberfüh­rung erspähte Smiley ein vergessenes Wappen. Toby machte eine winzige Handbewegung: Daumen nach oben,  unser Mann kommt. Von jenseits des Walls hörte Smiley leichte Fußtritte und das Vibrieren eines Eisengitters. Er nahm den Geruch einer ame­rikanischen Zigarette wahr, den der eisige Wind dem Raucher vorausschickte. Da ist immer noch das automatisch gesteuerte Gatter, dachte er. Er wartete auf das hallende Geräusch des Zu­schlagens, doch es kam keines. Er überlegte, daß er eigentlich gar nicht wußte, wie er seinen Gegner anreden sollte: Er kannte nur einen Codenamen und noch dazu einen weiblichen. Selbst sein militärischer Rang war ein Geheimnis. Und immer noch zögerte Smiley, wie jemand, der sich weigerte, die Bühne zu betreten.

Guillam schloß zu ihm auf und schien zu versuchen, ihn vorwärts zu drängen. Er hörte leise Fußtritte, als Tobys Observanten im Schutz des Walls zum Rand der beleuchteten Zone kamen, wo sie mit angehaltenem Atem auf das Kommen des Wildes warteten. Und plötzlich stand er da, wie ein Mann, der unbemerkt in eine belebte Halle gleitet. Seine kleine, rechte Hand hing flach und bloß an der Seite herunter, die Linke hielt die Zigarette schüch­tern vor der Brust. Ein kleiner Mann, barhäuptig, mit einer Werkzeugtasche. Er trat einen Schritt vor, und im Lichtschein sah Smiley sein Gesicht, gealtert, müde und gezeichnet, das kurze Haar vom Schnee weiß gestäubt. Er trug ein schmuddeli­ges Hemd und eine schwarze Krawatte: ein armer Mann, der zum Begräbnis eines Freundes geht. Die Kälte hatte seine Wan­gen tief nach unten gezogen und so seinem Alter noch ein paar Jahre hinzugefügt. Sie sahen sich an; sie waren vielleicht einen Meter voneinander entfernt, wie damals im Gefängnis von Delhi. Smiley hörte wieder Schritte, und diesmal kam das Ge­räusch von Toby, der behend die Holzleiter herunterkletterte; er hörte leise Stimmen und leises Gelächter; er glaubte sogar ein Geräusch zu vernehmen, das sich wie leichtes Schulterklopfen anhörte, aber er war sich nicht sicher; es wimmelte von Schatten, und sobald er im Lichtkreis stand, hatte er Mühe, darüber hin­auszusehen. Paul Skordeno glitt nach vorne und nahm auf einer Seite Karlas Aufstellung, Nick de Silsky auf der anderen. Er hörte Guillam zu irgend jemandem sagen, man möge doch den verdammten Wagen herbringen, bevor sie über die Brücke kä­men und ihn wieder zurückholten. Er hörte das Klirren von et­was Metallischem, das aufs Pflaster fiel, und er wußte, daß es Anns Feuerzeug war, doch außer ihm schien es niemand be­merkt zu haben. Sie wechselten noch einen Blick, und vielleicht sah jeder diese eine Sekunde lang in dem anderen etwas von sich selbst. Er hörte das Knirschen von Reifen und das Geräusch von aufgehenden Türen, während der Motor weiterlief. De Silsky und Skordeno bewegten sich auf das Auto zu, und Karla ging mit ihnen, obwohl sie ihn nicht führten; er schien bereits die unter­würfige Haltung eines Gefangenen angenommen zu haben, so, wie er es in einer harten Schule gelernt hatte. Smiley trat zurück, und die drei gingen leise an ihm vorbei, ohne ihn weiter zu beachten, ganz auf ihr Ritual konzentriert. Der Lichtkreis war leer. Er hörte das sanfte Schließen von Türen und das Geräusch des abfahrenden Autos. Er hörte die beiden anderen Wagen nachher oder gleichzeitig wegfahren. Er sah ihnen nicht nach. Er fühlte, wie Toby Esterhases Arme sich um seine Schultern legten, und sah, daß Tobys Augen mit Tränen gefüllt waren.