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»Wenn sie mich das nächste Mal einsperren - oder dich -, dann werden sie uns das Kind ohnehin wegnehmen. Alexandra ist für uns so und so verloren«, hatte Glikman gesagt. »Aber du kannst dich retten.«

»Ich werde mich entschließen, wenn ich dort bin«, hatte sie ge­antwortet.

»Entschließe dich jetzt.«

»Wenn ich dort bin.«

Der Fremde schob den leeren Teller beiseite und nahm das ele­gante französische Notizbuch wieder in beide Hände. Er blät­terte um, als schlage er ein neues Kapitel auf.

»Was nun Ihre kriminelle Tochter Alexandra betrifft«, verkün­dete er mit noch immer vollem Mund.

»Kriminell?« flüsterte sie.

Zu ihrem Erstaunen rezitierte der Fremde eine neue Liste von Verbrechen. Die Ostrakowa glitt dabei endgültig aus der Ge­genwart. Ihre Blicke lagen auf dem Mosaikboden, und sie be­merkte die Langustinenschalen und die Brotkrümel. Doch ihr Geist war wieder in dem Moskauer Gerichtssaal, wo ihr eigener Prozeß aufs neue ablief. Wenn nicht der ihre, dann der von Glikman - nein, auch der nicht. Wessen Prozeß also? Sie erin­nerte sich an Prozesse, denen sie als unerwünschte Zuschauer beigewohnt hatten. Prozesse von Freunden, wenn auch nur von Zufallsfreunden: zum Beispiel Leuten, die das absolute Verfü­gungsrecht der Behörden infrage gestellt hatten; oder irgendei­nen nicht genehmigten Gott verehrten; oder kriminell abstrakte Bilder malten; oder politisch gefährliche Liebesgedichte schrie­ben. Die plaudernden Gäste im Bistrot wurden zur grölenden claque der Sicherheitspolizei; das Knallen an den Spielautomaten zum Zuknallen von Eisentüren. Am soundsovielten wegen Aus­bruchs aus dem staatlichen Waisenhaus an der Dingsstraße soundsoviele Monate Besserungsverwahrung. Am soundsoviel­ten wegen Beleidigung von Organen des Staatssicherheitsdien­stes soundsoviele Monate, verlängert wegen schlechter Führung; gefolgt von soundsovielen Jahren interner Verbannung. Die Ostrakowa spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte, und sie glaubte, ihr werde übel. Sie legte die Hände um das Teeglas und sah die roten Kneifmale an den Gelenken. Der Fremde fuhr in seiner Aufzählung fort, und sie hörte, daß man ihrer Tochter zwei weitere Jahre verpaßt hatte, wegen Arbeitsverweigerung in der Soundso-Fabrik. Gott helfe ihr, was war ihr eingefallen? Woher hatte sie das? fragte die Ostrakowa sich ungläubig. Wie hatte Glikman es angestellt, dem Kind in der kurzen Zeit, ehe es ihm weggenommen wurde, seinen Stempel aufzudrücken und alle Bemühungen des Systems zunichte zu machen? Angst, Jubel, Verwunderung wirbelten in ihrem Geist wild durch­einander, bis eine Bemerkung des Fremden alles zum Stillstand brachte.

»Ich habe nicht gehört«, flüsterte sie nach einer Ewigkeit. »Ich bin ein bißchen durcheinander. Würden Sie freundlicherweise wiederholen, was Sie eben gesagt haben?«

Er sagte es nochmals, und sie starrte ihn an, versuchte, sich an alle Tricks zu erinnern, vor denen man sie gewarnt hatte, aber es waren zu viele, und ihr war alle Gerissenheit abhanden gekom­men. Sie besaß nicht mehr Glikmans Gabe - falls sie sie jemals besessen hatte-, »ihre« Lügen zu entziffern und »ihnen« immer um ein paar Züge voraus zu sein. Sie wußte nur, daß sie, um sich zu retten und um wieder mit ihrem geliebten Ostrakow vereint zu sein, eine große Sünde begangen hatte, die größte, die eine Mutter begehen kann. Der Fremde hatte angefangen, ihr zu dro­hen, aber die Drohung schien ausnahmsweise belanglos. Bei Verweigerung der Zusammenarbeit - sagte er gerade - würde eine Kopie der von ihr unterschriebenen Verpflichtungserklä­rung gegenüber den Sowjetbehörden ihren Weg zur französi­schen Polizei finden. Kopien ihrer zwei wertlosen Berichte (ver­faßt, wie er sehr wohl wußte, einzig zu dem Zweck, die Behör­den zu beschwichtigen) würden unter den noch vorhandenen Pariser Emigranten - deren Häuflein weiß Gott heutzutage kaum noch zählte! - in Umlauf gebracht werden. Wieso eigent­lich sollte sie sich einem Druck beugen müssen, um ein Geschenk von so unschätzbarem Wert anzunehmen - da doch aufgrund ir­gendeines unerklärlichen Gnadenakts dieser Mann, dieses Sy­stem ihr die Chance boten, sich und ihr Kind freizukaufen? Sie wußte, daß ihre täglichen und nächtlichen Gebete um Verge­bung erhört worden waren, die Tausende von Kerzen, die Tau­sende von Tränen. Sie ließ es ihn ein drittes Mal sagen. Sie ließ ihn das Notizbuch von seinem Gesicht wegnehmen und sah, daß sich sein weichlicher Mund zu einem halben Lächeln verzogen hatte und er sie idiotischerweise um Verzeihung zu bitten schien, noch während er diese aberwitzige gottgesandte Frage wieder­holte:

»Angenommen, es wurde beschlossen, die Sowjetunion von die­sem zersetzenden und asozialen Element zu befreien, was hielten Sie davon, wenn Ihre Tochter Alexandra Ihnen hierher nach Frankreich folgen würde?«

In den Wochen nach dieser Begegnung und bei all den Schritten, die sich daraus ergaben - verstohlene Besuche in der sowjeti­schen Botschaft, Ausfüllen von Formularen, Unterzeichnen von Eidesstattlichen Erklärungen, Einholen eines certificat d'héber-gement, mühevolles Durchwandern immer neuer französischer Ministerien -, verfolgte die Ostrakowa ihre eigenen Unterneh­mungen, als handle es sich um jemand anderen. Sie betete oft, doch ging sie dabei wie zu einer Verschwörung ans Werk, ver­teilte die Gebete auf mehrere russisch-orthodoxe Kirchen, so daß man sie in keiner von ihnen bei einem ungebührlichen Pie­tätsaufwand beobachten konnte. Einige dieser Kirchen waren weiter nichts als kleine Privathäuser im 15. und 16. Arrondissement, mit Patriarchenkreuzen aus Sperrholz und mit alten, re­gengetränkten russischen Anschlägen an den Türen, auf denen billige Unterkunft gegen Klavierunterricht gesucht wurde. Sie ging in die Kirche der Auslandsrussen, in die Kirche zur Er­scheinung der Heiligen Jungfrau, in die Kirche des Heiligen Se­raphim von Sarow. Sie ging überall hin. Sie klingelte, bis jemand kam, ein Küster oder eine schmalgesichtige Frau in Schwarz; sie gab ihnen Geld und durfte sich dafür in der feuchten Kälte vor kerzenbeleuchtete Ikonen knien, den schweren Weihrauch ein­atmen, bis sie halb trunken war. Sie tat Gelübde an den Allmäch­tigen, sie dankte Ihm, bat Ihn um Rat, hätte Ihn um ein Haar ge­fragt, was Er wohl getan hätte, wenn ein Fremder unter ähnli­chen Umständen an Ihn herangetreten wäre, erinnerte Ihn dar­an, daß so oder so Druck auf sie ausgeübt werde und sie verloren sei, wenn sie nicht gehorche. Zugleich aber meldete sich ihr un­verwüstlicher Hausverstand, und sie fragte sich immer wieder, warum gerade sie, die Frau des Verräters Ostrakow, die Geliebte des Dissidenten Glikman, die Mutter einer - so wenigstens gab man ihr zu verstehen - turbulenten und asozialen Tochter, so untypischer Nachsicht teilhaftig werden sollte.

In der sowjetischen Botschaft wurde sie, als sie ihren ersten for­mellen Antrag stellte, so rücksichtsvoll behandelt, wie sie es sich nie hätte träumen lassen, mit einer Milde, die weder einer Über­läuferin und abtrünnigen Spionin, noch der Mutter eines unge­bärdigen Teufelsbratens zukam. Sie wurde nicht rauh in ein Wartezimmer verwiesen, sondern in ein Büro gebeten, wo ein junger und zuvorkommender Beamter sie mit westlicher Höf­lichkeit bedachte und ihr sogar, wenn Feder oder Mut sie im Stich ließen, bei der ordentlichen Formulierung ihres Falles be­hilflich war.

Und sie sprach mit niemanden darüber, nicht einmal mit ihren nächsten Verwandten - der nächste war ohnehin nicht besonders nah. Die Warnung des Rothaarigen klang ihr Tag und Nacht in den Ohren: Die geringste Indiskretion, und Ihre Tochter kommt nicht frei.