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In Hamburg war es kurz nach elf Uhr morgens, und der Fuß­weg, der zum Landungssteg führte, war mit Sonnenlicht und ab­gefallenem Laub gesprenkelt. Über dem platten Wasser der Au­ßenalster lag ein glühender Dunst, durch den die Turmhelme am Ostufer wie grüne Flecke auf den nassen Horizont hingetupft schienen. Rote Eichhörnchen schusselten am Strand entlang und sammelten Vorräte für den Winter. Der schlaksige und leicht anarchistisch wirkende junge Mann auf dem Steg, der einen Trainingsanzug und Laufschuhe trug und dessen hohlwangiges Gesicht zwei Tage alte Bartstoppeln aufwies, hatte indessen we­der Augen noch Interesse für sie. Sein rotgeränderter Blick war starr auf das ankommende Schiff geheftet. Unter den linken Arm hatte er eine Hamburger Zeitung geklemmt, und ein so geschul­tes Auge wie das von George Smiley hätte sofort bemerkt, daß es die Ausgabe von gestern war, nicht die von heute. In der rechten Hand hielt er krampfhaft einen Strohkorb, der besser zur stäm­migen Madame Ostrakowa gepaßt hätte, als zu diesem elasti­schen und schmuddeligen Sportler, der aussah, als wolle er jeden Moment ins Wasser springen. Aus dem Korb lugten Orangen, auf denen ein gelber Kodak-Umschlag mit englischem Aufdruck lag. Außer dem jungen Mann war niemand auf dem Lan­dungssteg, und der Dunst über dem Wasser verstärkte sein Ge­fühl der Einsamkeit. Seine einzigen Gefährten waren der Fahr­plan der Alsterschiffahrt und ein uralter Anschlag, der den Krieg überstanden haben mußte und Hinweise zur Wiederbelebung von Halbertrunkenen gab; alle Gedanken des Wartenden kon­zentrierten sich auf die Instruktionen des Generals, die er sich immer wieder vorsagte, wie ein Gebet.

Das Schiff legte an, und der junge Mann hopste an Bord wie ein Kind in einem Tanzspiel - ein Wirbel von Schritten, dann bewe­gungslos, bis die Musik wieder einsetzt. Achtundvierzig Stun­den lang hatte er Tag und Nacht an nichts anderes zu denken ge­habt, als an diesen Augenblick: jetzt. Hinter dem Steuer seines Lasters hatte er wachsam auf die Straße gestarrt und sich zwi­schen kurzen Blicken auf die Photos von Frau und Töchterchen hinter dem Rückspiegel die vielen Dinge vorgestellt, die kata­strophal schiefgehen konnten. Er wußte, daß er eine Begabung für Katastrophen hatte. Während der seltenen Kaffeepausen hatte er die Orangen ein Dutzendmal aus- und wieder einge­packt, den gelben Umschlag längs daraufgelegt, quer- nein, die­ser Winkel ist besser, günstiger, man kann dann leichter heran­kommen. Am Stadtrand hatte er sich Münzen besorgt, um das Fahrgeld abgezählt bereit zu haben - wenn der Schaffner ihn nun aufhielte, in ein müssiges Gespräch verwickelte? Die Zeit war so knapp bemessen für das, was er tun mußte! Er hatte sich über­legt, daß er nicht deutsch sprechen würde. Er würde irgendetwas brabbeln, lächeln, wortkarg sein, abbittende Gesten vollführen, aber stumm bleiben. Oder er würde einige seiner estnischen Wörter von sich geben - einen Bibelvers, der ihm noch von sei­ner protestantischen Kindheit im Gedächtnis geblieben war, ehe sein Vater darauf bestand, daß er russisch lerne. Aber jetzt, wo der Augenblick so nah war, bemerkte der junge Mann, daß sein Plan einen Haken hatte. Wenn nun die Mitreisenden ihm zu Hilfe kamen? Im polyglotten Hamburg, nur wenige Kilometer vom Osten entfernt, konnten sechs x-beliebige Leute mit ebenso vielen Sprachen aufwarten! Besser den Mund halten, keine Miene verziehen.

Wenn er sich bloß rasiert hätte! Wenn er bloß weniger auffällig aussähe!

In der Hauptkabine des Schiffes sah der junge Mann niemanden an. Er hielt die Augen gesenkt; Augenkontakt vermeiden, hatte der General befohlen. Der Schaffner plauderte mit einer alten Dame und nahm keine Notiz von ihm. Er wartete nervös, ver­suchte, ruhig auszusehen. Er hatte den Eindruck von unter­schiedslos mit grünen Filzhüten und grünen Mänteln angetanen Frauen und Männern, die ihn einhellig mißbilligten. Jetzt war er an der Reihe. Er hielt seine feuchte Handfläche hin. Eine Mark, ein Fünfzigpfennigstück, ein paar Zehnpfennigmünzen. Der Schaffner bediente sich wortlos. Linkisch tappte der junge Mann zwischen den Sitzen zum Heck. Der Landungssteg bewegte sich weg. Sie halten mich für einen Terroristen, dachte der junge Mann. Seine Hände waren mit Motoröl beschmiert, und er wünschte, er hätte es abgewischt. Vielleicht ist auch welches auf meinem Gesicht. Keine Miene verziehen, hatte der General ge­sagt. Abseits halten. Nicht lächeln, nicht finster dreinschauen. Normal verhalten. Er sah auf die Uhr, mit einer bemüht langsa­men Bewegung. Er hatte schon vorher den linken Ärmelbund hochgerollt, um die Uhr freizumachen. Obwohl er nicht groß war, duckte er sich zusammen, als er plötzlich im Heckteil ankam, das im Freien lag und nur mit einem Sonnendach überdeckt war. Es war eine Sache von Sekunden. Nicht mehr von Tagen oder Kilometern; nicht mehr von Stunden. Sekunden. Der Stoppzeiger seiner Uhr rückte über die Sechs. Wenn er das näch­ste Mal die Sechs erreicht, dann los. Eine Brise hatte sich erho­ben, doch er spürte sie kaum. Die Zeit war ein gräßliches Pro­blem für ihn. Er wußte, wenn er aufgeregt war, verlor er jeden Zeitsinn. Er befürchtete, der Sekundenzeiger könne, eh er es merkte, eine Doppelrunde drehen und so zwei Minuten zu einer raffen. Im Heckteil waren alle Sitze frei. Er steuerte ruckweise auf die allerletzte Bank zu, wobei er den Korb mit den Orangen in beiden Händen vor seinem Magen und die Zeitung in die Ach­selhöhle geklemmt hielt: Ich bin's, entziffert meine Signale. Er kam sich idiotisch vor. Die Orangen waren viel zu auffällig. Warum um alles in der Welt sollte ein unrasierter junger Mann im Trainingsanzug einen Korb voll Orangen und die gestrige Zeitung herumtragen? Das ganze Schiff mußte aufmerksam ge­worden sein! »Herr Kapitän - dieser junge Mensch - dort drü­ben -, das ist ein Bombenleger. Er hat eine Bombe in seinem Korb, er will uns entführen oder das Schiff versenken!« Ein Paar stand Arm in Arm mit dem Rücken zu ihm an der Reling und starrte in den Dunst. Der Mann war winzig, kleiner als die Frau. Er trug einen schwarzen Mantel mit Samtkragen. Sie beachteten ihn nicht. So weit nach hinten setzen, wie es irgend geht; direkt an den Mittelgang, hatte der General gesagt. Er setzte sich und betete zu Gott, daß es beim erstenmal klappen möge und keine der Ausweichlösungen nötig sein würde. »Beckie, ich tu es für dich«, flüsterte er im stillen und dachte an seine Tochter, wäh­rend er sich die Worte des Generals ins Gedächtnis zurückrief. Trotz seiner protestantischen Herkunft trug er unter dem Reiß­verschluß seiner Jacke ein Holzkreuz, ein Geschenk seiner Mut­ter. Warum hielt er es versteckt? Damit Gott nicht Zeuge seines Wortbruchs werde? Er wußte es nicht. Er wollte nur wieder fah­ren, nichts als fahren, bis er umfiele oder sicher zu Hause wäre. Nirgends hinsehen, hatte der General gesagt. Er solle nirgends anders als gerade vor sich hinsehen: Du bist der passive Partner. Du hast weiter nichts zu tun, als die Gelegenheit zu liefern. Keine Parole, nichts; nur den Korb mit den Orangen und den gelben Umschlag und die Zeitung unterm Arm. Ich hätte mich nie dar­auf einlassen dürfen, dachte er. Ich bringe das Leben meiner Tochter Beckie in Gefahr. Stella wird mir nie verzeihen. Ich ver­liere meine Staatsbürgerschaft, ich riskiere Kopf und Kragen. Tu's für unsere Sache, hatte der General gesagt. General, ich habe keine: Es ist nicht meine Sache, es ist die Ihre, es war die meines Vaters, darum werfe ich jetzt die Orangen über Bord. Aber er tat es nicht. Er legte die Zeitung neben sich auf die Lat­tenbank und sah, daß sie verschwitzt war - daß die Drucker­schwärze an den Stellen, wo er sie umklammert hatte, abgegan­gen war. Er schaute auf die Uhr. Der Sekundenzeiger wies auf die Zehn. Sie ist stehengeblieben! Fünfzehn Sekunden, seit ich das letzte Mal hingesehen habe - das ist schlicht unmöglich! Ein hektischer Blick aufs Ufer zeigte ihm, daß sie bereits in der Mitte der Alster waren. Wieder schaute er auf die Uhr und sah den Se­kundenzeiger die Elf überspringen. Idiot, dachte er, beruhige dich. Er beugte sich nach rechts, tat, als läse er die Zeitung, wäh­rend er das Zifferblatt seiner Uhr nicht aus den Augen ließ. Ter­roristen. Nichts als Terroristen, dachte er, als er zum zwanzig­stenmal die Schlagzeilen sah. Kein Wunder, daß die Passagiere mich auch für so einen halten. Großfahndung. Er wußte, was das hieß und staunte selbst darüber, daß er noch soviel Deutsch konnte. Tu's für unsere Sache.