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Elke Heidenreich

Sonst noch was

Mit Bildern von Bernd Pfarr

Paula, für dich

Meine Mutter brachte mich zum Bahnhof.

Ich war elf Jahre alt, und es war der Beginn der Sommerferien.  Meine  Mutter  brachte  mich zum Bahrihof, weil ich zu meinem Onkel Hans in  den  Westerwald  fuhr.  Das  passte  ihr  gar nicht, und sie nörgelte die ganze Zeit herum:

»Ausgerechnet. Ausgerechnet zu Onkel Hans«, sagte sie. »Sonst noch was.« (>Sonst noch was<

war ihr Lieblingssatz.) »Diese Wirtschaft kann ich mir schon vorstellen. Wasch dir ja den Hals.

Und die Füße.«

   »Jaja«, sagte ich und versuchte, sie nicht mer-ken zu lassen, wie sehr ich mich auf diese Reise freute. Ich mochte Onkel Hans nämlich gern und war traurig darüber, dass er seit einiger Zeit nicht  mehr  bei  uns  wohnte.  Er  war  Mutters älterer Bruder, unverheiratet, und er hatte jahrelang ein Zimmer bei uns bewohnt. Sie kochte und  wusch  für  ihn  und  schimpfte  mit  ihm herum:  »Rauch  nicht  so  viel!«,  »Was,  schon wieder ein Schnäpschen?«, »Du könntest auch

mal wieder zum Friseur gehen!«, und so weiter, den ganzen Tag. und er streckte ihr hinter dem Rücken die Zunge heraus und zwinkerte mir zu.

   Onkel Hans spielte Lotto, immer dieselben Zahlen,  und  eines  Tages  hatte  er  tatsächlich gewonnen, und zwar tüchtig. Das ist wirklich wahr! Er hatte fünf Richtige und hat ein paar hunderttausend  Mark  dafür  bekommen.  Davon  hatte  er  meiner  Mutter  etwas  gegeben, weil auch ihr Geburtstag unter den Gewinn -

zahlen war, die 27 und die 6, und weil sie immer gejammert hatte: »Ich weiß nicht, wieso die  Kartenkämper�sche  sich  so  aufdonnern kann, seidene Tücher, Hüte und dauernd neue Schuhe, ich jedenfalls kann mir das nicht lei-sten, und sie ist doch auch nichts Besseres!«

   »Da«, sagte Onkel Hans eines Tages und legte ihr ein dickes Päckchen Scheine auf den Kü-

chentisch, »jetzt kannst du dir seidene Tücher, Hüte und neue Schuhe kaufen!«

   Und meine Mutter war gerührt, putzte sich die Nase in der Schürze, sagte: »Hans, das war doch aber nicht nötig gewesen! Also gut, dann

kriegt  das  Kind  nun  doch  ein  Klavier«  und steckte das Geld ein.

   Onkel Hans blieb immer noch sehr viel übrig, und davon erfüllte er sich seinen Lebens-traum:  Er  kaufte  sich  einen  kleinen  Bauernhof  im  Westerwald.  Das  Höfchen  hatte  ein entfernter  Vetter  von  ihm  jahrelang  bewirt-schaftet, aber der entfernte Vetter war nun alt und  klapprig  geworden  und  zog  zu  seiner Schwester  nach  Wuppertal.

   »Hast du dir das gut überlegt«, schrieb ihm Onkel  Hans,  »ausgerechnet  zu  deiner  Schwester, ich weiß, wovon ich spreche!«

   Aber er konnte das kleine Anwesen kaufen und endlich da leben, wo er schon immer hatte leben wollen: auf dem Land. Und er konnte Tiere halten. Onkel Hans war sein Leben lang Lastwagenfahrer  gewesen  und  hatte  immer sehnsüchtig von den Autobahnen auf die grü-

nen  Wiesen  geguckt,  wo  die  Schafe  und  die Kühe standen. Er stammte von einem Bauernhof, wie auch meine Mutier, die aber froh war, den  Dreck  und  das  Vieh  und  das  Landleben hinter  sich  zu  haben.  (»Land?  Sonst  noch

was!«) Onkel Hans dagegen hatte sich immer zurückgesehnt,  und  nun  konnte  er  sich  seinen  sehnlichsten  Wunsch  erfüllen:  Er  kaufte den kleinen Hof, fuhr ein letztes Mal mit dem Lastwagen,  diesmal  mit  seinen  eigenen  paar Möbeln � und war weg. Sein Zimmer wurde frisch tapeziert und tagelang gelüftet, weil der Zigarrenrauch darin hing, und dann wurde es mein Zimmer, in dem ich abends lag und an Onkel Hans im Westerwald dachte.

   Er schrieb uns Briefe, denn ein Telefon hat-ten  wir  damals  noch  nicht.  »Liebe  Gertrud«, schrieb er und »Hallo, kleine Käthe« (ich hei-

ße  Katharina,  aber  Onkel  Hans  nannte  mich immer >kleine Käthe<), »ihr glaubt nicht, wie schön es hier ist: nur Natur! Ich habe das Haus weiß  gestrichen  und  mir  schon  vier  Hühner und  einen  Hahn  gekauft,  ratet  mal,  wie  die heißen?«

    »Na«, knurrte meine Mutter, »wie werden Hühner schon heißen, Berta, Klara, Wanda und Emma. Und Natur! Was will er mit Natur, wo er den ganzen Tag eine Zigarre im Mundwin-kel hängen hat?«

Er hatte immer sehnsüchtig von den Autobahnen auf die grünen Wiesen geguckt.

   »Lieber   Onkel   Hans«,   schrieb   ich,   »wie heißen    deine  Hühner?  Und  weckt  dich  der Hahn morgens? Um wie viel Uhr?«

   Onkel  Hans  schrieb:  »Die  Hühner heißen Monika, Helga, Christel und Caroline, und der Hahn heißt Quint, weil er der Fünfte auf dem Hühnerhof ist und weil er um Punkt fünf Uhr kräht.«

      »Monika!«,  rief  meine  Mutter.  »Christel!

Sonst  noch  was!  So  heißen  doch  keine  Hühner! Das sind alles mal seine Freundinnen gewesen,  mit  Helga  hat  er  nächtelang  Doppelkopf gespielt! Na, der hat ja einen schönen Re-spekt vor Frauen, wenn er seine Hühner nach ihnen  nennt...«

   Nach und nach waren noch mehr Tiere da-zugekommen: ein Esel, ein Hund, eine Katze und  zwei  Ziegen.  Die  Ziegen  hießen  Gürtelchen und ... aber den Namen der zweiten Ziege wollte mir Onkel Hans erst sagen, wenn ich in den Sommerferien persönlich käme; es gäbe dann übrigens jeden Tag Apfelpfannkuchen.

   »Und Gürtelchen«, schrieb er, »heißt so, weil sie braun ist und nur in der Mitte einen weißen

Streifen  hat.  Eben  wie  ein  Gürtelchen.  Du wirst ja sehen.«

   »Nichts wirst du sehen«, sagte meine Mutter,  »so  weit  kommt�s  noch,  jeden  Tag Apfelpfannkuchen, den Schlawiner kenn ich.«

   Aber ich bettelte und quengelte und wein-te, und darin verlegte ich mich auf meine stärk-ste Waffe, das Husten. Ich konnte prima hu-sten, denn ich hatte immer was »mit den Bronchien«,  und  irn  Ruhrgebiet,  wo  ich  wohnte, war nicht gerade die beste Luft für Kinder »mit Bronchien«.

   »Sie muss mal aufs Land«, sagte der Doktor,

»gute  Luft  atmen,  kennen  Sie  denn  nieman-den auf dem Land?«

   »Doch!«, rief ich, »mein Onkel Hans hat einen Bauernhof im Westerwald!«

   »Westerwald ist gut«, sagte Doktor Schmö-

cke, »da ist saubere Luft, da schicken Sie das Kind  hin.«

      »Großer Gott«, sagte meine Mutter,  »Bauernhof,  sonst  noch  was!  Mein  Bruder  hat  irgend  so  eine  Klitsche,  ich  bezweifle,  ob  das Kind da überhaupt ein vernünftiges Bett kriegt.«

   »Hast du ein Bett für das Kind?«, schrieb sie an Onkel Hans, und er antwortete: »Aber hal-lo! Unterm Dach ist ein Gästezimmerchen mit Bett,  Schrank,  Tisch  und  Stuhl,  sogar  ein Waschbecken ist da, falls Käthe sich mal wa-schen will, was ich nicht glaube.«

   »Allmächtiger!«, rief meine Mutter, und ich hustete, was das Zeug hielt. Irgendwann wirk-te es. Sie seufzte, willigte ein, dass ich in den Westerwald  fuhr  und  kaufte  mir  einen  kleinen Koffer, einen Kulturbeutel mit einer  neu-en Zahnbürste, einer Tube Zahnpasta für mich allein,    Nivea-Creme,    Nivea-Seife  und  einer Haarbürste mit Tigermuster. Außerdem kaufte  sie  noch  feste  Schnürschuhe  und  einen Briefblock, weil ich immer schreiben und alles  erzählen  sollte.