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Der russische Exil-Supermarkt duldet also kein Russisch Brot. Umso wunderlicher, dass die Russen der DDR durchgehen ließen, in ihren Läden Dresdner Russisch Brot zu verkaufen, industriell gefertigt, aber nicht von Herrn Bahlsen oder Dr. Oetker, sondern von Dr. Quendt. Offensichtlich wurden diese damals nicht als Beleidigung gewertet, sondern als Ehrerbietung. Oder es war eine der wenigen nostalgischen Traditionen aus dem Kaiserreich, die Russland ignorierte, weil sie einfach immer schon da gewesen war.

Der Westen ließ der DDR allerdings auch die Cottbusser Butterkekse durchgehen, die gezähnt und gepunktet sind wie Leibnizkekse, nur dass in der Mitte ein kleines Männchen statt einem Schriftzug eingeprägt ist. Oder den Hansa Butterkeks, der einfach nur gepunktet und gezähnt ist, und der mittlerweile wieder fröhliche Urständ feiert. So wie das Dresdner Russisch Brot, das inzwischen einen zeitgeistigen Bruder bekommen hat, das Bio Russisch Brot, mit Dinkel gebacken. Califax, ComicHeld der DDR, ist dafür die Werbefigur, noch so ein von Nostalgie umwehter Geselle, den inzwischen schon die zweite Generation von klein auf kennt. Die Russen wollen sicher nicht wissen, wie das schmeckt. Dr. Quendt legt aber eine Spur zum anderen vermuteten Ursprung des Russisch Brot, indem er Russisch Brot auch in Herz- statt Buchstabenform und mit Schokoladenüberzug anbietet - unter dem Namen Patience Gebäck. Diese Spur führt nach Wien. Dort wollte man der Sage nach den russischen Gesandten beim Wiener Kongress 1814 eine besondere Ehre erweisen und ihnen, der russischen Tradition folgend, ein Stück Brot zum Empfang servieren. Natürlich nicht irgend eines, sondern eines, das der Wiener Süßspeisen- und Kaffeehaustradition würdig wäre. Man buk also Russisch Brot, ein wenig falsch mit lateinischen Buchstaben. Um die neutralen, weißen russischen Buchstabenkekse, die zur Zarenzeit schon existierten und „Bukwi“ hießen, nicht zu beleidigen, nannten die Wiener ihre Knabberbuchstaben „Patiencen“. Man konnte die Kekschen zusammenlegen, und in der richtigen Reihenfolge ergaben sie sogar einen Sinn, so wie die Spielkarten in der richtigen Reihenfolge eine Patience sind. Diese wiederum ist erfunden in Frankreich und von Bill Gates weltweit als Zeitvernichtungsmaschine „Solitaire“ in Computerprogrammen integriert.

Unter dem französischen Namen gingen die russenfreundlichen Kekse beim Wiener Zuckerbäcker Victor Schmidt 1858 in Massenfertigung, fettfrei gebacken oder aber aus Schokolade gegossen. Die Reaktion der russischen Delegation auf das Gebäck ist nicht überliefert, wohl aber die Tatsache, dass die Schmidt’sche Zuckerbäckerei schon wenige Jahre nach ihrer Gründung am Rand des Ruins stand. Erst als die Söhne komplett auf industrielle Fertigung umsattelten, blühte der Betrieb auf. Mozartkugeln und Ildefonso-Schichtnougatwürfel waren die Cash Cows der Fließbandconfiseure. „Chocolade für alle!“ sagte aber auch der Konkurrent Josef Manner, der ab 1890 Massensüßwaren anbot. Eine Waffelschnitte mit Nuss-Nougatfüllung, die „Neapolitaner Schnitte No. 239“, erfunden 1898, war ihr Erfolgsrezept. Noch so ein Fake der deutschsprachigen Industriebäckerei; in Neapel gibt es die Neapolitaner Schnitten bestenfalls als Importware aus Österreich, aber das stört ebenfalls niemanden, weil die Schnitten in dem rosa Papierquadrat so herrlich nach Kindheit schmecken, nach Schulausflug oder einem Nachmittag im Freibad.

Patiencen hatten im Gegensatz zu den Neapolitanern in Wien auf Dauer keine Chance, und so kaufte Manner im Jahr 2000 die Schmidt’sche Zuckerwarenfabrik, ihre Marken und ihre Tradition. Die Patience ist nicht mehr im ständigen Sortiment, nur an Weihnachten kommt sie im Nostalgie-Karton wieder in die Regale.

Aber was sagen die modernen Russen dazu? An der Grenze gibt es für den einreisenden Gast mitnichten ein Stück Brot zur Begrüßung, sondern einen General-Anschiss, den zu verstehen es sich nicht lohnt und auch nicht nötig ist, denn nach viel Palaver, „Njet!“ und „Stoi!“ wird der Pass mit dem mühsam organisierten Visum dann natürlich doch gestempelt und der Besucher mit „Doswidanja!“ ins Land geschickt. Durch geöffnete, wenn auch nicht gerade weit offene Türen strömen also Besucher und Waren ins Land. Doch je mehr Westprodukte ein Supermarkt anbietet, desto weniger Kunden hat er. Eine Schachtel Reber-Pastetchen kostet in Russland genau so viel wie in Deutschland, nur dass eine russische Lehrerin im Monat gerade so viel verdient, wie 30 Schachteln Reber-Pastetchen kosten. Auch Bahl-sen-Kekse liegen schön gestapelt im Regal, haben Suschki und Prijaniki in ihren Rascheltütchen etwas an den Rand gedrängt, aber an den Kopf- und Stirnseiten des Regals, wird schließlich am häufigsten zugegriffen. Nicht auszuschließen, dass der eine oder andere westliche Dekadenz-Supermarkt die Dreistigkeit besitzt, auch Russisch Brot ins Regal zu stellen. Zu finden ist ein solcher bei einem Ortstermin in Russland allerdings nicht. „Kapitalist!“ schimpft der greise Deutsch-Russe Anatolij, wenn jemand zu offensiv die westliche Warenwelt vor sich her trägt. Als Volksdeutscher in der Ukraine geboren, hat er sich schon im Weltkrieg für den Kommunismus und den Osten entschieden, diesen erst als Matrose der Roten Armee, später als Fregattenkapitän und Stabsoffizier erst durchgesetzt und dann gegen den Westen verteidigt. Über alle Nordmeere ist er gesegelt, und mit dem Untergang der Sowjetunion kam auch sein privater Untergang, das Ende der guten Zeit. Jetzt bekommt er 236 Euro Rente, sagt er in einem sehr alten, langsamen Deutsch, und fährt deshalb deutsche Touristen gegen Euro-Bargeld in einem 80er-Jahre-Mercedes durch seine russische Heimat. Während für die einen mit der Sowjetunion auch Hunger und Mangel in die Geschichte eingingen, endete für Anatolij mit der Wende das schöne Leben. Aus der Tasche seiner grauen Jacke zieht er ein Mäppchen mit einem Foto, das zeigt ihn mit strengen Augen, vorgerecktem Kinn und sehr großer weißer Mütze an Bord eines Kriegsschiffs, neben ihm der deutsche Vizeadmiral Dieter-Franz Braun, damals Befehlshaber der deutschen Flotte. „Raketen schießen“ haben sie da geübt, sagt Anatolij, ein Deutsch-Russisches Manöver. Im Mäppchen steckt auch noch die Einladung zu einem gemeinsamen Abendessen der einstigen kalten Krieger. Dresscode: Uniform. Anatolij seufzt, als er das Mäppchen wieder in die Jacken-Innentasche steckt: „Jetzt ... alter Mann.“

Wenn die Freizeitversessenen mit voll aufgepacktem Touren-Fahrrad unterwegs sind, knurrt Anatolij ihnen zu: „Partisanen!“. Wenn sie ihm die 13 Euro pro Stunde bezahlen, fährt er sie artig herum und erzählt Geschichten. Leider kennt er nur traurige Geschichten, etwa die von dem Dorf, in dem früher alle Frauen als Melkerinnen arbeiteten. Seitdem die Kolchose geschlossen hat, arbeitet dort niemand mehr. Oder die Geschichte vom ehemaligen deutschen Friedhof, von dem das Breschnew-Regime alle Grabsteine entfernen ließ, die Gräber planiert und der Natur überlassen wurden, und dessen abgeschliffene Grabsteine als Rohlinge für russische Grabdenkmäler an anderen Orten verwendet wurden.

Die russische Geschichte vom Russisch Brot ist dagegen eine nette und stammt aus einer noch älteren Zeit, aus dem Zarenreich. In Sankt Petersburg soll der Dresdner Bäckergeselle Ferdinand Wilhelm Hanke in der Mitte des 19. Jahrhunderts wunderbare Kuchen- und Keksrezepte kennen gelernt haben. Damals konnten die Handwerksgesellen noch relativ leicht auf ihre Lehr- und Wanderjahre in den Osten gehen. Begeistert und mit vielen Rezepten im Gepäck eröffnete Hanke dann 1845 die „Deutsch-Russische Bäckerei“ in Dresden und bot dort von Anfang an auch Russisch Brot an, das er aus dem Rezept für „Bukwui“, Buchstabenkekse, entwickelte. Eben diese wollte nun Dresdens Bäckermeister Hartmut Quendt (genau, der mit dem ostalgischen Califax als Werbefigur) wieder in Sankt Petersburg heimisch machen, tourte 2005 auf Einladung des sächsischen Wirtschaftsbüros durch Petersburg und rührte die Werbetrommel für seine Buchstabenkekse. Die Reaktionen in Dresdens Partnerstadt waren verhalten.