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Von „Migros“ in Wankdorf einmal um die Ecke gebogen Richtung Messegelände sieht die Welt schon anders aus. Im Komplex des „Stadion de Suisse“, einem der Austragungsorte der Fußball-Europameisterschaft, ist ein Einkaufszentrum untergebracht, darin die wahrscheinlich beste und größte Filiale der allgegenwärtigen Schweizer Supermarktkette „Coop“ im Berner Land. Hierhin fahren die saturierten jungen Familien im Skoda Oktavia zum Wochenendeinkauf. Das Schokoladenregal ist mindestens so lang wie das Wurstregal. Das Bündner Fleisch hat ein eigenes Regal, da es in vielen Sorten und Packungsgrößen daherkommt. Allerlei Grillgut liegt bereit, auch Monster-Wurtschnecken, dicke weiße Kalbsbratwürste, von der Firma „Bell Barbecue“: Cervelas gefüllt (Dicke mit Käsebrocken, umwickelt mit Speck), Bernerli mit Käse, bei denen man aber den Käse nicht sehen kann, die aber aussehen wie Wienerle mit Speck umhüllt. „Bell“ ist eine Wurstwarenfabrik, die die ganze Schweiz beliefert, und ihre Bernerli sehen gar nicht so aus wie die Bernerli von der Konkurrenz oder die Berner Würstchen vom Münchner Flaucher. Keine von allen ist in gegrilltem Zustand in der Berner Altstadt anzutreffen.

Die dicken weißen Bratwürste bietet auch ein netter älterer Herr auf dem Wochenmarkt am Bärenplatz an, schon fertig gebraten. Wer die nicht leiden mag, kann auch zypriotischen Haloumi-Käse vom Grill haben, israelische Falafel, Knobibrot oder einen Hotdog. Nebenan am Käsestand schreibt der Kollege „Walliser Wurst“ an, eine Art Salami mit Edelschimmel, wahlweise mit oder ohne Knoblauch. Der Asia-Mann hält Gemüseröllchen vor, die Asia-Frau gebackene Bananen, der Mexikaner frische Tacos. Berner Würstchen? Haben sie nicht. Hier ist reserviert für leckere Sachen aus der Region, und zur Region gehören hier auch, mit Nonchalance hingenommen, die Einwanderer.

Viel ist zu sehen in Bern, viel zu erleben, zu bestaunen und zu genießen, aber nichts deutet darauf hin, dass hier das Berner Würstchen erfunden wurde. E-Mail-Nachfrage beim Ausbildungszentrum für die Schweizer Fleischwirtschaft. Die Antwort kommt postwendend von einem gewissen Felix: „Sie haben Glück, dass Ihr E-Mail bis zu mir gekommen ist, habe ich doch vor ca. 15 Jahren am ,Bernerli mit Käse‘ in der Entwicklung mitgearbeitet. Dieses Würstchen ist aber nicht mit Bauchspeck umwickelt, wie die von Ihnen bekannten Berner Würstchen. Auch werden diese ,Bernerli mit Käse‘ nur von einer Firma in Bern als regionale Spezialität hergestellt. Verkauft werden sie in einzelnen Privat-Metzgereien, sowie in den Migros Filialen (leider nicht in allen). Dass es in Deutschland und auch in Österreich (ich habe sie letzten Sommer in Linz gegessen) diese Berner Würstchen gibt und ebenfalls etwas Ähnliches in der Schweiz, ist wohl eher Zufall. Der Kreativität der Fleischfachleute im deutschsprachigen Raum sind eben keine Grenzen gesetzt. Ich hoffe, Ihnen mit meinen Ausführungen gedient zu haben.“

Dass eine Schweizer Konkurrenzfirma nun das deutsche Produkt kopiert hat und den Schweizer Grillern schmackhaft machen will, ist dem tapferen Mann bisher noch entgangen.

Die Industrie scheint allerdings sehr darauf erpicht, das Berner Würstchen an den Mann zu bringen; eine Marktlücke aufzustemmen, wo vorher gar keine war, um sie mit Käse- Speck-Grillern zu füllen. Wie bei jedem Produkt verkauft man in volle Kühlschränke und braucht dafür gute Argumente. Fettarmut und Gesundheit können es in diesem Fall nicht sein; statt dessen versucht man, dem Produkt eine Tradition anzudichten, die es nicht hat, und eine regionale Verortung zu verpassen, die sich ungeschickterweise vor Ort noch nicht herumgesprochen hat. Jedenfalls nicht bis zu den Berner Gastwirten. Dabei schmecken sie gar nicht mal schlecht, die Bernerli aus dem Ausbildungszentrum, wie eine Kreuzung aus Debreciner und Salami. Sie sind wirklich eine prima Brotzeitwurst.

Den Berner Wurststreit darf ein berufener Experte beenden. Der heißt Pablo und sitzt tagaus tagein als Wappentier im Bärengraben. Wenn Pablo alles fressen würde, was da hineinfiele, wäre sein Leben kein Spaß mehr, also prüft er wählerisch die Beute. Mit einem „Pflupp“ landet ein Bernerli in seiner Sichtweite. Pablo liegt gerade gemütlich auf dem Bauch, sieht das Würstchen, rührt sich erstmal nicht. Oben an der Steinbrüstung hängen kichernd die Touristen. Pablos Bärennase kräuselt sich. Er hebt den Kopf und angelt das Würstchen mit der Tatze heran. Einmal, zweimal beißt er davon ab, kaut gründlich, hebt den Oberkörper, blickt mit bernsteinfarbenen Augen nach oben. „Pflupp“, noch ein Würstel. Das schmeckt ihm. Und jetzt zum Vergleich - ein Emmentalerli. Gleiche Prozedur. Pablo ist zufrieden. Noch ein Emmentalerli. „Pflupp.“ Dann endet der Wurstregen, Pablo legt sich wieder auf den Bauch, und schnuppert noch lange an der Stelle im Sand, wo der überraschende Segen niedergegangen ist.

DANZIGER GOLDWASSER

Neuer Glanz in alten Gassen

Der kleine Engel auf dem Likörgläschen lacht. Im dem Kelchlein tanzt Goldflitter in der Sonntagnachmittagssonne, auf der Langen Gasse jagen kleine Mädchen bunt schillernden Riesenseifenblasen hinterher, unter dem Bogen des Grünen Tors sitzt eine Ziehharmonikaspielerin. Die Stuckgesichter an den Fassaden, all die Löwenköpfchen und Cherubime dösen gemütlich vor sich hin, vom Langen Markt her flanieren die Touristen und die einheimischen Kleinfamilien zur Mottlau, an jedermanns Handgelenk baumelt eine kleine silberne Digitalkamera, und von irgend einem der Altstadttürme weht, bimmelimmelimm, ein liebliches Glockengespiel herüber.

Beschaulich ist das Wort, das einen sonnigen Sonntagnachmittag in Danzig beschreibt. All die bummelnden Besucher, all die herausgeputzten Häuserzeilen, die summenden Straßencafes, das Kopfsteinpflaster, Neptun dreizackschwingend in seinem Brunnen und hochgetürmtes Softeis auf kleinen Waffelhörnchen - wie in einem riesigen Puppenhausmuseum ist das Leben in der Altstadt. Vor dem wuchtig-finsteren Krantor sitzen die alten Männer und fischen in der Mottlau, ein voll besetztes Ausflugsschiff zur Westerplatte tuckert an ihnen vorbei, drüben in der Speicherstadt hocken Studenten auf dem hölzernen Kai und streicheln ein graues Kätzchen, das sich eben angeschlichen hat. Danzig erfüllt mit planvoller Absicht alle Erwartungen, die man an die Stadt haben könnte. In der Marienkirche dreht sich mit ehrwürdiger Ruhe die astronomische Uhr aus der Renaissance um eine mit einer Marienskulptur gezierte Nabe. In der Marienstraße bieten die Goldschmiede in ihren Kellerläden und die Händler an ihren sonnenschirmbeschützten Ständen die schönsten Bernsteinarbeiten der Ostseeregion an. Im „Café Goldwasser“ gibt es außer Capuccino, Minz-Frappé oder Bier natürlich auch Danziger Goldwasser in einem geschliffenen Likörgläschen, das ein lachender Engel ziert. Es ist dickflüssig wie Öl, scharf wie ein Hustenbonbon, aromatisch wie ein Kräutertee und altmodisch süß obendrein. Perfekt passt es zu Danzig, der schmucken Hansestadt mit den schmalen, hohen Kaufmannshäusern, deren Fassaden so edelfein sind, deren Geschichte so lang und deren Anmutung so nostalgisch.

Man wünscht sich, diese Atmosphäre destillieren und mit nach Hause nehmen zu können. Das ist möglich, wenn man im „Café Goldwasser“ oder auch sonstwo ein „exklusives Souvenir“ erwirbt, eine Flasche des altehrwürdigen Luxuslikörs in einem roten Samtbeutel etwa oder in einem Geschenkkarton zusammen mit zwei geschliffenen Gläschen mit Engelsdekor. Auch kann man, wenn man so viel davon überhaupt erträgt, die Nettigkeit des Nachmittags verlängern, indem man um die Ecke ins „Restaurant Goldwasser“ geht und sich mit Blick auf Schiffe und Speicherstadt gegrillten Zander servieren lässt, als Digestif noch ein Goldwasser und dann in den „Apartments Goldwasser“ satt und glücklich nächtigt.

Das könnte das Ende der Geschichte sein, sofern man am nächsten Tag wieder abreist und nur goldenwässrige Erinnerungen an Danzig und Fotos von blattgoldverzierten Fassaden mitnimmt. Tatsächlich nämlich ist nichts von all diesem Zauber ganz echt. Denn Danzig und Goldwasser tun, als hätte sich in der Altstadt seit dem Barock nichts verändert, als hätte man einfach nur das Gläschen ab und zu spülen, das Kopfsteinpflaster ausfegen und die Fassaden dann und wann neu streichen müssen. Tatsächlich aber sind all diese ehrwürdigen Gebäude Neubauten. Das hören die Danziger nicht gerne, aber Tatsache ist, dass Danzig zwar eine uralte Stadt ist, im Zweiten Weltkrieg aber dem Erdboden gleichgemacht wurde. 1945 waren 90 Prozent der Gebäude in der historischen Altstadt zerstört. Die Polen, Kummer gewohnt, ließen sich auch diesmal nicht unterkriegen, schnappten sich alte Fotos, Stiche und Gemälde und bauten ihre auf sowjetisches Anraten in Gdansk umbenannte Stadt so wieder auf, wie sie vorher war. Sogar noch schöner, denn die müffelnden Kellerlöcher, die bröselnden Hinterhöfe, die schlecht auf den Putz getackerten Stromleitungen, die man in manch anderer, von Kriegen weniger betroffenen Barockstadt findet, haben die Restauratoren nicht berücksichtigt. Nur das Schöne, das wahre Alte, das Wichtige hat man nachgebaut, die Löwenköpfchen an den Fassaden fein ausgearbeitet, den Stuck-Ornamenten die perfekte Dynamik gegeben, den Statuetten auf den Firsten des Langen Markts das beste Weiß verpasst, an den richtigen Stellen der fein geschwärzten schmiedeeisernen Fenstergitter Blattgold aufgetragen. Ein besseres Danzig haben sie aufgebaut, ein historisches, aber auch ein historisierendes; eines, das seine Schönheiten präsentiert und leicht konsumierbar macht, ein Danzig, das mit sich selbst protzt, das beeindrucken möchte, das benutzerfreundlich ist, verkehrsberuhigt, voller Lokale und kleiner Läden, die auch am Sonntag für den geneigten Flaneur geöffnet haben, und sicherheitsbedacht, denn sogar unter dem ehrwürdigen Krantor lugt das runde Auge der CCTV-Überwachungskamera hervor.