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Jeder bekommt das Danzig, das er sich aussucht. Sozialismus-Spuren oder Freistadt-Charme, modernes junges Polen oder Hanse-Pracht. Ein Besuch in Danzig ist ein bisschen wie einer in Disneyworld, wo man sich ebenfalls entscheiden muss, ob man ins „Adventureland“ oder ins „Frontierland“ geht, oder doch als erstes in das „Sleeping Beauty Castle“. Alles sollte man einmal gesehen haben. Aber im Gegensatz zum Vergnügungspark hat Danzig echtes Gold zu bieten: Seine Bürger. Jene Bürger, die sich weder von Reichsdeutschen, noch von Nazis, noch vom Sozialismus kleinkriegen ließen, ihre Stadt vor allem für sich selbst wieder aufgebaut und zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Die traditionsbewusst sind, soll heißen, sie suchen sich aus ihrer reichen Tradition bewusst das aus, was ihnen am besten gefällt, um es dann in vollen Zügen zu genießen und sogar die Welt daran teilhaben zu lassen. Nur weil dieses Gefühl für die eigene Stadt da ist, weil die Bürger in ihrer Stadt leben, auch mal betrunken durch die Gassen torkeln, Graffiti an die Wand schmieren, schweineschmalzige Piroggen essen, sich auf dem Hauptplatz mit dem Freund streiten und in der Ulitza Szeroka falsch parken, weil die Stadt also immer noch kein Freilichtmuseum, sondern ein Gebrauchsgegenstand ist, ist sie ein lebendiger, echter Ort und kein Vergnügungspark. Sie ist sogar eine schöne Stadt, weil sie von ihren Bürgern geliebt wird. Und ja, auch das Goldwasser gehört zu Danzig. Gerade, weil es einerseits altmodisch ist und andererseits trotzdem nicht seit Jahrhunderten am selben Fleck gebraut wird, sondern wie die Stadt selbst eine Geschichte von Vernichtung und Neuanfang hat. Keine Cola und kein „Adventureland“ können Danzig das Wasser reichen.

PIEMQNT-KIRSCHEN

Füllmaterial für einen Krater in der Seele

Mit einer überraschenden, akuten und schmerzhaften Beziehungsenttäuschung im Bauch zu verreisen, ist eine Erfahrung für sich. Mich hat sie ausgerechnet im Piemont ereilt. Am Lago Maggiore. Genau am Tag des offiziellen Frühlingsanfangs. Ärger kann es kaum kommen. Alles hätte so schön werden sollen - ein gestohlenes Wochenende in einem frisch renovierten Palasthotel am See, Bötchen fahren, spazieren gehen, Blüten bestaunen, fein Essen gehen, Wein trinken. Aber schon beim Losfahren wusste ich: Er wird nicht kommen. Er wird nie wieder kommen. Er hat jemand anderen kennen gelernt. Bei Facebook. Alles nachzulesen auf seiner Wall. Verdammt. Das sitzt.

Mit einem schwarzen Loch im Bauch bin ich dann trotzdem losgefahren, jene Art von schwarzem Loch, das sich implosionskraterartig auftut, wenn einen die Erkenntnis wie ein Vorschlaghammer in den Solarplexus trifft und das alle Lebensenergie in sich einsaugt. Es ist, als würde man innerhalb einer Millisekunde in das eigene Loch im Bauch fallen, in sich selbst verschwinden und sich dann aus dem Krater heraus wieder auffalten als verändertes Selbst, ein Schatten dessen, was man noch kurz vorher gewesen war. Wer es ein paar Mal erlebt hat, weiß, dass sich Widerstand lohnt und der Implosionskrater sich am besten mit neuen Erfahrungen zuschütten lässt. Daher bin ich losgefahren, und genau am Freitag Mittag, als ich ins Auto stieg, begann es auch noch zu stürmen und zu schneien. Der Mensch plant, das Universum lacht.

Der Lago Maggiore ist grauenhaft schön. Im Gras an der Uferpromenade von Verbania Pallanza, einer auf einer Landzunge verborgenen Enklave abseits der sich am See entlang schlängelnden Panoramastraße, liegen die Gänseblümchen und schlafen. Über ihnen beugen sich blütenschwer die Zweige der Kirsch- und Magnolienbäume als schützendes, flauschiges Dach. Sogar bei Nacht strahlen sie in frischen Farben, als fluoreszierten sie im faden Licht der elektrischen Laternen. Leise plätschern die Wellen des Sees ans Ufer. Auf der anderen Seite der tintenschwarzen Wasserebene glitzern die Orte am Ostufer, darüber spannt sich ein gigantisches Sternenzelt. Eine Asiatin pflückt einen blühenden Zweig vom Baum, auf einer der vielen Bänke sitzt ein Pärchen und raucht, ein junger Mann mit Strickmütze wühlt in einem Abfalleimer. Ansonsten ist die Promenade menschenleer. Nur die Krieger am Denkmal halten Wache, angestrahlt von trüben Schweinwerfern, die steinernen Mäntel fest um sich gezogen. Ich höre die Ledersohlen meiner frühlingspinken Mokassins auf dem Pflaster knarzen. In meinem Kopf dröhnen noch die Songs aus den 90er Jahren, die ich auf der Fahrt gehört habe. Sie erinnern mich an vergangene Beziehungsenttäuschungen. „Summer of 69“, „Killing me softly“, „Crying just to let you“. Ich habe keine Tränen, nicht an diesem Abend, ich bin leer.

In der „Pizzeria Magnolie“ bestelle ich erst recht eine Pizza mit Wurst, Zwiebeln und Knoblauch, ich bin ja alleine in meinem Palasthotelzimmer mit der Damast-Tagesdecke. Ich trinke kein damenhaftes Viertel, sondern einen halben Liter Wein, damit ich mir später wenigstens selbst beim Schnarchen zuhören kann. Das Lokal ist voll, vor allem mit Einheimischen, ich bin natürlich die einzige, die allein gekommen ist. Ich sehe hinaus auf den See, das funkelnde andere Ufer, und warte darauf, dass es mir etwas ausmacht, allein da zu sitzen. Hinterher, wieder auf der Promenade, streichle ich die Kirschblüten, sie sind weich wie Haut und kühl wie totes Fleisch, ich schließe die Faust ganz fest um einen Zweig, so fest, dass mir die Handballen weh tun, aber die Blüten falten sich danach einfach wieder auf, als wäre nichts gewesen. Statt dem Blut des Kirschbaums bleiben nur vier kleine, rote Halbmonde in meiner Hand zurück, die Abdrücke meiner eigenen Fingernägel.

Die Isola Bella ist herzzerreißend hübsch. Eben erwacht sie aus ihrem Winterschlaf, die Souvenirhändler bauen gerade erst ihre Stände auf. Aus Stresa kommen urlaubende Rentner und Kleinfamilien in privaten See-Taxis angetuckert, direkt vor dem Schloss des Carl Borromäus gehen sie von Bord, galant gestützt von silberhaarigen Fährmännern. Ich bin mit dem Linienschiff da, aber aus dem sind heute Mittag auch nicht mehr Besucher gestiegen als aus den kleinen Holzschiffen. Das Schloss, das überall, außer auf einer winzigen Insel, mickrig aussehen würde, hier aber eindrucksvoll über dem See thront, schläft noch. Die Fenster sind blind, alle Türen verrammelt, Frühlingseröffnung erst nächste Woche. Von der Wand bröckelt ein wenig der Putz, als müsste sich der Palast noch mausern wie die Spatzen, die noch schlank vom Winter jedem Besucher fröhlich entgegen hüpfen. Wieder einmal bin ich die einzige, die allein über das Flusskieselpflaster tappt, die Jacke bis oben hin zugeknöpft, die frühlingshafte lila Tasche mit der aufgenähten Erdbeere tapfer geschultert und das Gesicht hinter einer riesigen roten Sonnenbrille versteckt, total Fashionista, total daneben. Ich bilde mir ein, dass alle Leute mich mitleidig ansehen, weil kein Mensch freiwillig allein zur Kirschblüte auf die Borromäischen Inseln schippert, um dann dort allein unter den Bäumen zu wandeln. Das ist, aus der Distanz betrachtet, auch wirklich sinnlos. Aber vom Vorplatz des Palazzo Borromeo aus gesehen, mit den schneebezuckerten Alpen im Hintergrund, den ockerfarben in der Sonne leuchtenden Dörfern am Ufer, den entzückenden Inselchen davor und dem glitzernden Wasser ist es - ich bin von mir selbst überrascht - ziemlich schön. Und weit sinnvoller als der Ausflug des noch stylisher angezogenen Pärchens, das schweigend und ohne sich anzusehen Runde für Runde um die Insel geht, oder der des deutschen Ehepaars, sehr später Eltern eines kleinen Buben, der versucht, einen schönen Tag zu haben, und dafür abwechselnd von der Mutter oder vom Vater gemaßregelt wird: „Nein Benjamin, da nimm deine Finger weg!“, „Schau Benjamin setz dich mal auf die Kanone hier, los, komm, setz dich mal drauf!“ Sie haben weniger Spaß als ich. Sie entdecken nicht die gefleckte Katze, die auf einem Balkon zwischen Opuntien sitzt und in die Sonne blinzelt, sondern bleiben mit dem Blick an den grauenhaften, Kunsthandwerk vortäuschenden, aber wahrscheinlich aus chinesischer Produktion stammenden Töpferarbeiten in den zwei schmalen Dorfgässchen hängen. Die Spaziermöglichkeiten sind ausgesprochen eingeschränkt, denn der Park des Schlosses, die Hauptattraktion der Insel, ist auch noch geschlossen, so wie fast alles am Lago Maggiore - obwohl die Kirsch- und Magnolienbäume aus den Gärten heraus so hell leuchten wie die Spitzen der Berge. Der Park der Villa Pallanza - nächste Woche erst offen. Die fröhliche Nachmittags-Kreuzfahrt „Pomeriggio sul Lago“ - „Tut uns leid, dafür kommen heute sicher nicht genug Gäste zusammen, vielleicht am Sonntag, fragen Sie einfach noch einmal.“ Die Seilbahn zum Aussichtsberg? Winterpause. Isola Madre? Palast und Museum hat zu, nur im Garten könnte man herumgehen. „Aber denken Sie daran, Magnolienfest ist erst nächste Woche.“ Doch nächste Woche, wenn alles eröffnet, gibt es nur noch Schneefall aus blassrosa, toten Blütenblättern und braunen, matschigen Ex-Magnolienblüten. Der Mensch plant, Gott lacht. Ich jetzt auch, aber mit einem Ziehen im Bauch, das mich daran erinnert, dass ich nur meine Enttäuschung mit der Welt teilen will.