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Die ältliche Kellnerin in einem der zwei geöffneten Lokale scheint mir ganz besonders freundlich und zuvorkommend zu sein, genau wie die magere Souvenirhändlerin, die mir wortreich die Preise jeder einzelnen Schneekugel und jedes Kühlschrankmagneten erklärt, die unverwüstlichen Kleinigkeiten umständlichst in Papier wickelt. Wie die alte Dame einen Stand weiter, die mir das Heftchen „Schätze Italiens: Lago Maggiore und die Inseln des Borromeo-Golfs“ sorgsam in eine Tüte packt und dabei versucht, durch meine Sonnenbrillengläser in mein Herz zu sehen. Zwei Stunden, bis der Liniendampfer wieder zurück fährt, und schon drei Mal jedes Gässchen abgegangen, ich brauche etwas zu lesen, wenn schon niemand mit mir spricht. Da sitze ich also wieder, schaue über mein bestimmt extra großes Tris di Pasta auf einen leeren Stuhl und jetzt macht es mir wirklich etwas aus. Hundertausend Mal allein in ein Lokal gegangen, aber auf der Isola Bella hört der Spaß an der Emanzipation auf. Dazu kommt, dass die Fleischsauce auf der Lasagne, der größte Teil des Tris, mindestens vom letzten Herbst stammt und das Coperto-Brötchen mindestens vom Vortag. Lautstark palavert eine italienische Freundesclique am Nebentisch, das stylishe Pärchen sitzt in der Sonne und isst schweigend Kuchen, zwei alte Damen bestellen Kaffee. Alles ist besser als allein mit einem holprig übersetzen Reiseführer und einem durchwachsenen Tris-Teller auf der sonnenbeschienenen Loggia zu sitzen. Sogar die dicke Ente, die an meinen Stuhl heranwatschelt und mit kleinen, hellen Knopfaugen um den Rest vom Brötchen bittet, hat einen Begleiter dabei.

Dann sitze ich wieder auf der Sonnenbank, warte auf das Schiff, spüre, wie kalt der Wind über den See zieht, sehe die stillstehende Seilbahn am anderen Ufer. Das Loch im Bauch wird riesengroß. Nur eine Frage hallt vom Grund des Kraters herauf: Warum? Am Festland tue ich das einzige, was hilft, wenn sich der Krater weder mit Erfahrungen noch Alkohol oder kohlehydrathaltigem Essen auffüllen lässt: Shoppen. Ich vergucke mich in eine azurblaue Handtasche, aber der Laden, aus dessen Fenster sie lacht, hat geschlossen. Wie die meisten in Pallanza. Ich fahre eine Ecke weiter, nach Intra, wie alle Einheimischen auch, und da lachen noch viel mehr Taschen aus viel mehr Geschäften, die alle offen haben. Beige Prada-Lackschuhe glänzen verführerisch im Schaufenster. Ich kaufe ein Tiramisu-Gelato, um nicht in die Läden hineingehen zu können, betrachte Taschen mit aufgestickten Comic-Helden, aus Bast gewebte Taschen, Taschen aus geflochtenem Leder und riesige Stoffbeutel mit Kettengriffen. Es geht schon besser. Aber eigentlich will ich gar nichts kaufen. Wer braucht schon schöne Ausgehschuhe, wenn er den Abend im Hotelzimmer verbringen wird, wer eine neue Tasche, wenn er doch kürzlich extra für den romantischen Frühling eine Erdbeertasche angeschafft hat. Das Handy klinget. Meine Mutter. „Jaja, alles super hier, tolles Wetter, blühende Bäume, schon einen Ausflug zu den Inseln gemacht ...“

Am Pier von Intra hallt es wieder in mir, während ich die Autofähre heranrauschen sehe, die schwangere Frau im schicken grauen Kostüm an mir vorbeigeht und das alte Pärchen mit dem kleinen Hund an der Leine. Warum. Warum hat er mich nicht ausgesucht. Warum nur wollte er nicht mitkommen. Über mir nicken die blütenschweren Zweige. Allein reisen ist etwas Großartiges, wenn man neue Erlebnisse sucht, denn man nimmt die Umgebung viel wacher wahr als in Begleitung. Man sieht jedes Detail, wie in Intra das Mahnmal für den Partisanen Lollo, der 1944 im heldenhaften Kampf gegen die Faschisten gefallen ist, vor dem ein Topfpflänzchen steht, das mit einer Schleife in den italienischen Nationalfarben verziert ist. Allein reisen mit einer Beziehungsenttäuschung im Bauch ist aber etwas völlig anderes, da ist jeder Eindruck eine Ohrfeige, jedes Funkeln auf dem Wasser ein spöttischer Kommentar zur eigenen Situation, nichts ist Zufall, alles ist ein Plan des Universums, um mir meine eigene Minderwertigkeit bewusst zu machen. Wenn ich jetzt sofort hier sterbe, niemand wird mir ein Mahnmal errichten. Weil ich einfach allein hier war, ohne Sinn, ohne Grund. Warum. Warum. Weil er mich nicht mochte. Weil er einfach nicht mit mir hierher kommen wollte, so entzückend, so schön, so malerisch der Lago Maggiore zur Kirschblüte auch ist. Weil er vielleicht ein Dorf weiter mit der anderen unter einem blühenden Baum auf der Bank sitzt. Dabei ging es weniger um ihn speziell, sondern darum, nicht allein zu sein, also um mich. Und jetzt das.

Dass ich auf einer Reise eine Enttäuschung durch Erlebnisse überwinden kann, weiß ich von früheren Katastrophen. Da habe ich aber dann tagelang alle Museen, Kirchen und sonstigen Sehenswürdigkeiten von Dublin besichtigt, abends in Kneipen Bier getrunken und mit Fremden getanzt, in der Londoner Oxford Street mehr Schuhe gekauft, als ich tragen konnte oder alle schwarzen Abfahrten eines Skigebiets ausprobiert. An einem Ort aber, wo es nichts zu tun und zu besichtigen gibt, sondern die Stimmung das ist, weswegen die begleiteten Menschen kommen, funktioniert das nicht. Niemals, niemals sollte man alleine dorthin fahren, wo andere Menschen romantische Wochenenden verbringen. Diese Orte sind Vergrößerungsspiegel des eigenen Befindens, deshalb gelten sie als romantisch. Wer aber kein gutes Gefühl mitbringt, wird auch dort keines finden, sondern sich von einer Enttäuschung in ein Drama hineinsteigern.

Wenigstens für die Leute zu Hause will ich etwas Schönes mitbringen, also halte ich an einem Riesen-Supermarkt. Da tobt der italienische Wochenend-Einkauf, werden fachmännisch zig verschiedene Oster-Colombas verglichen, papierdünne Schinkenblätter Lage für Lage zu buchdicken Familienpaketen gepackt, Aranciata im Großgebinde in die Wagen gehievt. Auch mein Wagen füllt sich mit Spezialitäten und für mich suche ich Trostessen, Schokolade nämlich. Das Süßigkeitenregal ist kaum halb so groß wie das für die Pasta, die Auswahl wie überall in Italien kläglich. Ganz unten, in einer Ecke und gut versteckt entdecke ich sie dann aber, die perfekte KummerSüßigkeit: Mon Chéri. Schokolade, Alkohol und eine Kirsche. Ja, ausgerechnet die Piemont-Kirsche, die hier so garstig romantisch blüht. Die Kirsche, zu der die magersüchtige Zicke aus der Werbung immer hinfährt. Nicht jede Kirsche kann eine Piemont-Kirsche sein, nicht jede ist süß und saftig genug. Genau wie ich. Der einen ist’s gegeben, der anderen nicht. Dabei weiß doch jeder, dass das mit der Piemont-Kirsche bloß Werbe-Blödsinn ist, bestimmt erfunden von denen, die bei der Kirschblüte im Piemont eben nicht allein waren. Als Marke geschützt für den Industriepralinenhersteller, der EU aber als Herkunftsbezeichnung nicht geläufig. Eine Illusion: Wo Romantiker hinfahren, sind am Ende sogar die Kirschen süßer und dicker als anderswo.