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Falsche Antwort. Aber auch falscher Vorschlag. Die Regensburgersemmel gibt es schon längst. Gehen Sie einige Minuten weiter zum Neupfarrplatz. Wenn Sie Glück haben, ist dort der ImbissStand einer Metzgerei aufgebaut, die Regensburgersemmeln anbietet, belegt mit der dicken, großen Brühwurst, die den Namen Regensburgs in den Kosmos der Metzgereitheken hinausträgt und dort dem Namen Wiens Konkurrenz macht, indem sie die Wiener an Umfang deutlich übertrifft. Auch in Regensburgs Metzgereitheken liegt die beliebte Brotzeitwurst, keine zwei Euro kostet das Paar. Es scheint also alles in bester Ordnung zu sein: Regensburg bekennt sich zu seinem berühmten Snack.

In Wirklichkeit ist die Regensburger aber vom Aussterben bedroht, denn sie ist eigentlich ein Phantom. Niemand weiß wirklich, wie sie aussieht, und womöglich gibt es die echte Regensburger schon seit 100 Jahren nicht mehr. Was außerhalb der Stadt Regensburg gemeinhin als Regensburger verkauft wird, ist eine etwa zehn Zentimeter lange und vier Zentimeter dicke Brühwurst mit recht grobem Inhalt und leicht geräuchert, meist mit Brocken aus Speck. Dieselbe Wurst, aber mit feinem Inhalt, wird als Dicke gehandelt. Wenn diese Dicke dann ganz lang ist und einen Kreis formt, ist sie eine Lyoner. Und wenn sie doppelt so lang und dafür dünn ist, hat man eine Wiener. Eine dünne, lange Regensburger ist ähnlich einer Debreciner, nur dass sich in der mehr Kräuter befinden, die man andererseits auch in mancher Regensburger entdecken kann. In Regensburg aber ist die feine Version der Wurst in manchen Metzgereien ein Knacker, und manchmal auch die grobe, sodass man schon nicht recht weiß, was man bekommt, wenn man in Regensburg eine Knackersemmel bestellt. Eine Metzgerei hat beschlossen und verkündet im Internet, dass es Regensburger schon „viele Jahrhunderte gibt“, die kompakte Brotzeitwurst sei dagegen ein Knacker. Auf dem Bild sehen beide gleich aus ...

Und dann der Regensburger Wurstsalat, den viele Gaststätten anbieten: Er besteht aus in feine Scheiben geschnittener Wurst, frischen Zwiebelringen, Essig und Öl. Da er nicht RegensburgerWurstsalat heißt, kann er aus allerlei Wurst bestehen, genau wie außerhalb Regensburgs, wo man nur zwischen Wurstsalat (bestehend aus Dicken oder Regensburgern oder Lyoner, selten Leberkäs) und Schweizer Wurstsalat (dasselbe mit Käse) unterscheidet. Die Metzgerei mit der praktischen Internetseite verkündet: „Wir haben Kunden, die kaufen einen Querschnitt durch unsere Würstl und machen einen gemischten Wurstsalat aus Lyoner, Stadtwurst, Regensburgern und Knackern.“

Der Regensburger Wurstsalat wie auch die Regensburger entziehen sich in der Praxis ihrer Definition. Vielleicht haben deshalb viele Lokale sie, die Regensburger Wurst, gar nicht erst auf der Speisekarte. Wiener werden Sie jedenfalls weithin finden, den Salat auch, aber der kann ja nun auch aus Lyoner sein. Identität ist eine vielschichtige Sache. Bei Menschen ist sie um so stärker, je ausgeprägter das Selbstbewusstsein ist. Bei Dingen ist sie um so eindeutiger, je schärfer die Definition der Sache ausfällt. Die regionale Identität des Menschen kann aber auch durch Definition vorgegeben werden und die Definition einer Sache durch das Selbstbewusstsein ihrer Besitzer. Genau da liegt das Problem der Regensburger: Die Stadt sucht gerade ihren neuen Platz in Europa, ist vom Zonenrandgebiet wieder ins Zentrum gerückt, nachdem sie im Mittelalter schon einmal von Bedeutung gewesen war, wovon aber nur noch die Baudenkmäler und nicht mehr das Selbstbewusstsein der Bewohner zeugen. Was ist also heute ein Regensburger? Sucht er seine Identität in der Vergangenheit, und wenn ja, in welcher? Der traditionell-bayerischen, der provinziellen, oder der glanzvollen mittelalterlichen? Der römischen gar? Der reichsdeutschen? In der Gegenwart mit ihrem Wandel und den blühenden Landschaften? Oder glaubt er an die Zukunft und findet sich selbst im Bild des Europäers, seine Stadt als Treff- und Angelpunkt zwischen Ost-und Westeuropa? Was ist Regensburg heute für ein Ort - und wofür möchte er berühmt sein?

Regensburger Würstel werden Sie garantiert finden, wenn Sie die berühmte „Wurstkuchl“ aufsuchen. Diese kleine Steinhütte direkt an der Donau ist ein bemerkenswertes Relikt: Im 12. Jahrhundert klebte sie wie ein Schwalbennest außen an der Stadtmauer, und die Bauherrn der Steinernen Brücke, jenem Weltwunder des Mittelalters, verwahrten dort ihre Pläne und Unterlagen. Als die Brücke fertig war, zog eine Garküche in die Hütte und verkaufte Selchfleisch an die Hafenarbeiter und Schauerleute, die Schiffer und Bauarbeiter. Irgendwann kam der Wirt auf die Idee, statt Gesottenem große, fetthaltige Bratwürste anzubieten, und das war die Geburtsstunde der ersten Bratwurststube der Welt, wie sich die „Wurstkuchl“ heute stolz nennt. Außerhalb der Reisesaison können Sie sogar den einen oder anderen Regensburger (Menschen) darin treffen, und der Duft der Regensburger (Wurst) weht Ihnen schon entgegen, bevor Sie die kleine Hütte sehen können. Innen gehen sie am knackenden Holzkohlengrill vorbei in die dunkel getäfelte Stube, die KümmelWecken stehen schon im Körbchen auf dem blanken Tisch. Sie müssen nur noch wählen, ob sie sechs, acht oder zehn Regensburger wollen, Kraut bekommen Sie sowieso. Allein, diese Würste sind gemeinhin eher unter dem Namen Nürnberger bekannt: Deftige Schweinsbratwürstel eben. Kann die älteste Bratwurstbude der Welt lügen? Sind eigentlich dies die echten Regensburger? Aber was sind dann die dicken, groben Brühwürste?

Bestellen Sie noch ein dunkles Bier, blicken Sie aus dem kleinen Fenster der „Wurstkuchl“ hinaus auf die Donau und genießen Sie den Moment. Denken Sie an das, was Sie eben gesehen haben: All die stolz herausgeputzten Bürgerhäuser der Altstadt. Den sandgestrahlten Dom in all seiner gotischen Würde. Das römische Portal, unerschütterlich seit Jahrtausenden an seiner Straßenecke festgewachsen. Die hohen Türme der reichen Patrizierfamilien, die sich damit ihre Denkmäler gesetzt haben. Den riesigen Saal im Rathaus, in dem die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ihre Kurfürsten, Prälaten, Fürsten, Grafen und Freiherren zum Reichstag herbeizitierten. Wo die Mächtigen die Räder der Zeit drehten, Kriege beschlossen und wegweisende Gesetzeswerke. Damals war Regensburg die Nabe der politischen Welt.

1806 wurde alles anders. Das Reich und damit der Reichstag existierten nicht mehr. Regensburg wurde der Provinzialisierung überlassen. Das Geld in der Stadtkasse war schon im selben Jahr knapp. Die Stadtkämmerei verkaufte die kleine Garküche an der Donau an den Wirt Wolfgang Schricker. Es gibt Gerüchte, dass erst er es war, der dort das Selchfleisch gegen profane Würste ersetzte, ein Zeichen des schwindenden Selbstbewussteins der gewesenen Metropole. Es konnte nur noch bergab gehen ohne Reich und Reichstag, besser die Reste des Alten durch den Wolf drehen und auf den Grill damit.

Gehen Sie jetzt noch einmal durch die Stadt und sehen Sie genau hin. Auf dem Neupfarrplatz sind neben der Imbissbude Stände mit Spezialitäten aus Frankreich aufgebaut, feinste Pasteten aus Entenleber und Pfeffer gibt es da, bretonischen Cidre und duftende Olivenöle. In der Dombuchhandlung liegen stapelweise Vampir-Romane von Stephenie Meyer, ins Schaufenster eines der Antiquitätenlädchen hat sich eine Mickey-Maus aus Glas geschlichen. Im Lokal des Hotel Orphée speist man französisch, der Feinkostladen bietet Meersalz aus Portugal an, die Konditorei gegenüber dem Rathaus hat keine Donauwellen in der Vitrine, dafür Rosen-Honig aus Schweden, ein KühlLastwagen liefert Spezialitäten für das Asia-Lokal, und beim Italiener ist als Tagesgericht Involtini alla Siciliana an die Tafel geschrieben. Alles ist ungeheuer liebevoll gemacht, individuell und aufreizend putzig gestaltet, aber die großen Filialisten haben ihre Stores jenseits der Kopfsteinpflaster-Fußgängerzone bereits aufgeschlagen wie ein Belagerungsheer seine Zelte. Noch hält die Altstadt stand und zeigt sich trotzig von ihrer familiären Seite. Nagelneues Römermuseum unter dem Neupfarrplatz, graffitifreie Fassaden. Doch dahinter bröckelt es schon. Sehen Sie noch genauer hin. Das Gelände der ehemaligen Schnupftabaksfabrik ist wunderbar luxussaniert, die mittelalterlichen Stein-Löwen am Eingang repräsentativ herauspräpariert, doch die große Schnupftabakstradition wird nur noch im Museum gefeiert. In der ehemaligen Fabrik haben sich Coffeeshop, Tapasbar und Belegte-Brote-Bistro angesiedelt, locken mit Designermöbeln und Leckereien, für die auch Don Juan sein Selchfleisch hätte stehen lassen. Im Café bedient eine Tschechin. Was ist heute ein Regensburger? Identität ist eine schwierige Sache. Kein Wunder, dass niemand so genau weiß, was eine Regensburger Wurst ist.