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Für Gene und Rosemary Wolfe

LIED

Hasch mir den Kometenschweif,

Zeug ein Kind mit der Alraun,

Sag, wer stahl den vorigen Mai,

Wer krümmte des Teufels Klaun?

Mach, daß ich Nixen singen höre,

Aller Bosheit mich erwehre,

Und find

Den Wind

Der mir Treu und Glauben bringt.

Ist dir seltene Schau verliehn,

Unsichtbares gar zu sehn

Reit zehntausend Tage hin,

Bis dich deckt der Altersschnee;

Bei der Rückkehr wirst du sagen,

Was sich Rares zugetragen,

Bereit

Zum Eid:

Du sahst kein schön – und treures Weib.

Triffst du doch eins, sag mirs gleich,

Süß wird meine Wallfahrt dann;

Doch laß – vergeudet wär die Zeit!

Wohnte sie auch nebenan,

Und war treu, als du sie gefragt,

Ja, blieb treu, bis du mirs gesagt,

Zweien,

Nein, dreien,

Wird, bis ich komm, sie untreu sein.

John Donne, 1572-1631

KAPITEL 1

In dem wir das Dorf Wall kennenlernen und erfahren,

was dort alle neun Jahre Merkwürdiges passiert

Es war einmal ein junger Mann, der sehnte sich danach, daß sich sein Wunschtraum erfüllte.

Obgleich dies kein ungewöhnlicher Anfang für eine Geschichte ist (denn jede Geschichte über einen jungen Mann, ob in der Vergangenheit oder der Zukunft, könnte auf ähnliche Weise beginnen), war an dem jungen Mann und seinen Erlebnissen doch viel Seltsames, das nicht einmal er selbst jemals in vollem Umfang begriff.

Die Geschichte begann – wie viele andere Geschichten – in Wall.

Der kleine Ort Wall liegt heute wie seit sechshundert Jahren auf einem hohen Granitfelsen mitten in einem kleinen Waldgebiet. Die Häuser von Wall sind alt und robust, aus grauem Stein, mit dunklen Schieferdächern und hohen Schornsteinen. Um auf dem Felsen jeden Zentimeter Platz zu nutzen, kuscheln sie sich eng aneinander, eins dicht an das andere gebaut, mit hier und dort einem Busch oder Baum, der aus einer Gebäudemauer wächst.

Aus Wall heraus führt nur eine Straße, ein verschlungener Pfad, der vom Wald her steil ansteigt, gesäumt von Felsbrocken und Steinen. Folgt man ihm weit genug nach Süden, aus dem Wald heraus, wird aus dem Pfad eine richtige asphaltierte Straße; noch ein Stück weiter verbreitert sie sich abermals, und auf ihr drängen sich zu jeder Tages- und Nachtzeit Autos und Lastwagen, die es eilig haben, von einer Stadt zur anderen zu kommen. Irgendwann schließlich gelangt man auf der Straße nach London, aber dafür ist man von Wall aus eine ganze Nacht lang unterwegs.

Die Einwohner von Wall sind ein wortkarges Völkchen, das sich grob in zwei Typen unterteilen läßt: zum einen leben hier die Ureinwohner, groß und robust wie der Granit, auf dem ihr Städtchen erbaut wurde, und zum anderen die Zugewanderten, die sich im Lauf der Jahre in Wall niedergelassen haben, samt ihren Nachfahren.

Unterhalb von Wall im Westen liegt der Wald; im Süden befindet sich ein trügerisch friedlicher See, gespeist von den Bächen aus den Hügeln im Norden des Dorfes. Auf den Weiden der Hügel grasen Schafe, und im Osten erstreckt sich ebenfalls Wald.

Unmittelbar östlich von Wall erhebt sich eine hohe graue Steinmauer, von der das Dorf seinen Namen hat. Diese Mauer ist sehr alt, aus grob behauenen Granitbrocken aufgeschichtet; sie kommt aus dem Wald und fuhrt wieder in ihn zurück.

In dieser Mauer gibt es nur eine einzige Lücke: eine knapp zwei Meter breite Öffnung, ein Stückchen nördlich vom Dorf.

Durch den Spalt in der Mauer blickt man auf eine große grüne Wiese, hinter der Wiese liegt ein Bach, hinter dem Bach sieht man Bäume. Von Zeit zu Zeit kann man zwischen den Bäumen in der Ferne Gestalten erkennen. Riesige, seltsame Gestalten und kleine, schimmernde Erscheinungen, die aufblitzen und leuchten und dann plötzlich wieder verschwunden sind. Obwohl es hervorragendes Weideland ist, hat noch nie ein Dorfbewohner sein Vieh auf der Wiese jenseits der Mauer grasen lassen. Auch hat niemand sie je als Ackerland benutzt.

Vielmehr werden seit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von Jahren Wachen auf beiden Seiten der Öffnung postiert, und ansonsten geben sich die Dorfbewohner alle Mühe, nicht an den Mauerdurchgang zu denken.

Auch heute noch stehen zwei Männer auf beiden Seiten des Durchgangs, Tag und Nacht, in Achtstundenschichten. Sie tragen gewaltige Holzknüppel und bewachen die dem Dorf zugewandte Seite der Lücke.

Die Hauptaufgabe der Wächter ist es, die Dorfkinder davon abzuhalten, durch die Öffnung auf die Wiese oder womöglich noch weiter hinauszulaufen. Gelegentlich muß auch ein einsamer Wanderer oder einer der seltenen Besucher daran gehindert werden, durch die Maueröffnung zu schlüpfen.

Bei den Kindern reicht es meist aus, mit dem Knüppel zu drohen. Bei Wanderern und Besuchern müssen die Wachen manchmal etwas einfallsreicher vorgehen; körperliche Gewalt wird jedoch nur angewendet, wenn ein Hinweis auf neu eingesätes Gras oder einen gefährlichen Stier nicht fruchtet.

In ganz seltenen Fällen kommt jemand nach Wall, der offensichtlich genau weiß, was es mit dem Mauerdurchgang auf sich hat, und bisweilen werden solche Leute durchgelassen. Sie haben dann diesen gewissen Ausdruck in den Augen, der jeden Irrtum ausschließt.

Im ganzen zwanzigsten Jahrhundert gibt es keinen einzigen den Dorfleuten bekannten Fall von Schmuggel über die Mauer, und darauf ist man im Dorf sehr stolz.

Nur einmal alle neun Jahre am Maitag wird die Wache abgezogen, denn da findet auf der Wiese ein Jahrmarkt statt.

* * *

Die nun folgenden Ereignisse haben sich vor vielen Jahren unter der Regentschaft von Königin Victoria zugetragen. Damals war sie noch nicht die schwarzgekleidete Witwe von Windsor – sie hatte runde Apfelbäckchen, einen energischen, schwungvollen Gang, und Lord Melbourne mußte die junge Königin wegen ihrer Flatterhaftigkeit des öfteren sanft ermahnen.

Mr. Charles Dickens veröffentlichte seinen Roman Oliver Twist in Fortsetzungen; Mr. Draper machte die ersten Fotografien vom Mond und bannte das blasse Rund auf kaltes Papier; Mr. Morse hatte der Öffentlichkeit vor kurzem eine Methode vorgestellt, wie man Botschaften durch Metalldrähte übermitteln konnte.

Hätte man einem dieser Männer etwas von Magie oder einem Feenland erzählt, hätten sie dafür lediglich ein herablassendes Lächeln übrig gehabt, mit Ausnahme von Dickens vielleicht, der damals noch ein junger, bartloser Mann war. Wahrscheinlich hätte er nur ein versonnenes Gesicht gemacht.

In diesem Frühjahr trafen viele Leute auf den Britischen Inseln ein. Sie kamen einzeln, zu zweit, gingen in Dover an Land, in London oder in Liverpool – Männer und Frauen, deren Haut so blaß war wie Papier, so dunkel wie Vulkangestein, rötlich braun wie Zimt, Menschen, die sich in einer Vielfalt von Sprachen verständigten. Den ganzen April über kamen sie, und sie reisten mit dem Zug, zu Pferde, in Wohnwagen oder Karren, und manche gingen zu Fuß.

Zu dieser Zeit war Dunstan Thorn achtzehn Jahre alt und in keiner Weise romantisch veranlagt.

Er hatte nußbraunes Haar, braune Augen und Sommersprossen. Er war mittelgroß und nicht sehr redegewandt. Doch er lächelte gern und oft, und dieses Lächeln brachte sein Gesicht von innen heraus zum Strahlen. Wenn er tagsüber auf den Weiden seines Vaters seinen Phantasien nachhing, träumte er davon, das Dorf Wall, in dem man vor Überraschungen nicht sicher war, zu verlassen und nach London zu ziehen, nach Edinburgh oder Dublin oder in eine andere große Stadt, wo man nicht darauf achten mußte, aus welcher Richtung der Wind blies.