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Dann kam noch eine gute Stunde Waschen und Stubenreinigen, und so war es elf vorbei, als sie endlich in den Betten lagen, mit einiger Aussicht, die Nacht ungestört durchzuschlafen.

Ernst Deutschmann lag lang ausgestreckt auf dem Rücken und zwang sich, ruhig, tief und gleichmäßig zu atmen. Sein Herz raste. Langsam wurde es besser, das Schwindelgefühl verflog, zurück blieb nur eine schwere, lähmende Schwäche, die seinen Körper zu einem reglosen Bleiklumpen machte.

Im Bett daneben lag der Bauer Wiedeck, der Mann, den er im Militärgefängnis in Frankfurt an der Oder kennengelernt hatte. Er war sein Zellengenosse gewesen, schweigsam, mürrisch, verschlossen. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt, obwohl sie stets zusammen waren: in der Zelle, auf dem täglichen Spaziergang im Gefängnishof und in der Werkstatt, wo sie die Sohlen der Militärstiefel mit Nägeln beschlugen. Freunde waren sie erst geworden, als ein Feldwebel, dem Deutschmanns Gesicht nicht paßte, in der Mittagspause einige Kisten voller Nägel umwarf und Deutschmann befahl, sie wieder einzusammeln. Wiedeck hatte ihm dabei geholfen, wortlos, verbissen, finster.

»Wie geht’s?« hörte er jetzt Wiedeck flüstern.

»Besser«, flüsterte er zurück.

Schweigen.

»Verfluchte Schweine!« flüsterte Wiedeck nach einer Weile.

»Mach dir nichts draus«, sagte Deutschmann.

Und wieder Stille. Und dann:

»Woran denkst du?«

»An Julia«, sagte Deutschmann.

»Ich auch. An Erna. Hast du Kinder?«

»Nein.«

»Ich habe zwei. Nein, jetzt sind’s drei.«

»Maul halten!« kam von irgendwoher eine Stimme.

Und dann begann Erich Wiedeck zu erzählen. Leise, flüsternd, mit langen, schweigenden Pausen, ungelenk, nach Worten suchend. Und trotzdem wuchs vor den Augen des still liegenden, lauschenden Deutschmann eine Welt empor, die ihm bisher fremd geblieben war. Er hörte das schwere Atmen des Asthmatikers und das Schnarchen Schwaneckes nicht mehr. Die dumpfriechende, von undurchdringlicher, säuerlicher Finsternis erfüllte Stube versank und wurde weit, weit wie die Felder von Pommern.

So kam der ehemalige Obergefreite Erich Wiedeck, dekoriert mit dem EK I, Silberner Nahkampfspange, Silbernem Verwundetenabzeichen, zwei Panzer-Ab schußstreifen, kurz vor seiner

Beförderung zum Unteroffizier, in das Strafbataillon 999:

Der Wind stand leicht über den Feldern von Melchow.

Es war gegen Mittag. Über die Feldwege ratterten einige Trecker. Kahlgeschorene Männer in alten, zerrissenen Lumpen saßen auf den hüpfenden Sitzen, einige Frauen und Mädchen in bunten Kopftüchern folgten den Spuren der großen Räder. Russische Landarbeiter, Bauern aus der Ukraine, aus dem Kaukasus, aus Weißrußland, aus den Feldern um Minsk und den Sonnenblumenäckern der Steppe von Saporoshje, eingefangen wie Wild, nachts aus den Betten geholt, in Viehwagen gepfercht und nach Deutschland gebracht, um die Ernte zu retten, die den Sieg bedeuten sollte.

Wiedeck ließ die Ähren seines Roggens durch die Finger gleiten. Sie waren dick, prall gefüllt mit Körnern, schnittreif wie noch nie ein Korn in den letzten Jahren. Die Felder standen voll davon: achtzig Morgen unter dem Pflug. Roggen, Weizen, Hafer, Kartoffeln, Gerste, Zuckerrüben.

Er sah hinüber zu den Treckern und den Russen, die lachend ins Dorf zogen. Sonnabend. Feierabend. Das Wetter war gut. Die Sonne stand und würde in den nächsten Tagen nicht weggehen.

Sie schaffen es nicht, dachte er. Sie können es nicht schaffen. Die paar Russen, die Frauen, ein paar Trecker - die Ernte verkommt auf den Feldern, wenn sie nicht gleich geschnitten wird. Und dann dachte er daran, daß Erna, seine Frau, schwanger war, daß in knapp drei Wochen das Kind kommen mußte, daß sie einen schweren Leib hatte, sich kaum bücken konnte und unter der Sonne und der schweren Arbeit litt.

Er sah über seine Felder, über das Meer der wogenden Ähren, und er rechnete im Geist die Stunden und Tage aus, die man brauchte, um es zu schneiden und vor Beginn des Regens einzufahren.

Als er am frühen Nachmittag wieder nach Hause kam, stand Erna in der Tür und sah ihm entgegen.

»Wo bleibst du nur?« fragte sie besorgt. »Dein Zug fährt in zwei Stunden.«

»Ich habe mich umgesehen«, sagte er knapp. Er sah sie an: Ihr Leib war schwer.

»Das Korn steht gut«, sagte sie, während sie die Schürze abband. »Komm, iß noch etwas. Einen Kuchen habe ich auch gebacken, zum Mitnehmen.«

»Wer wird es schneiden?«

»Was?«

»Das Korn.«

»Ich -.«

»Du?«

»Natürlich. Und drei Russen. Wenn sie bei Pilchows fertig sind, kommen sie zu uns. Sie bringen den großen Binder mit.«

»Es wird zu spät sein.« Er sah gegen den Himmel. Die Sonne schien noch acht Tage! Wenn es regnen würde, verfaulte das Korn auf dem Feld.

»Komm -!« Erna zog ihren Mann ins Haus. »Es geht eben nicht anders. Was wir einfahren können, tun wir. Das andere ...«, sie schüttelte den Kopf. »Einmal ist dieser Krieg auch vorbei, und dann wirst du wieder besser sorgen können.«

»Es ist eine Schande, daß es verfault«, sagte er starrköpfig. Er setzte sich in der Wohnküche an das Fenster und sah hinaus. Dann drehte er sich herum zu Erna, die am Herd stand und Kaffee aufgoß. Bohnenkaffee, abgespart von den seltenen Sonderrationen der Lebensmittelkarten für den Tag, an dem Erich auf Urlaub kam. Die ganze Küche duftete danach. Und auf dem Tisch stand ein dicker Rosinenkuchen. Sogar eine weiße Manschette hatte sie herumgebunden, so, als sei heute sein Geburtstag oder sonst ein Feiertag. Ein Feldblumenstrauß stand daneben - Blumen von seinen Wiesen.

Er wandte sich ab und starrte wieder hinaus auf das Land. »Ich bleibe«, sagte er knurrend.

»Was?« Erna sah ihn verständnislos an. Sie stellte die Kaffeekanne auf den Tisch und setzte sich. »Was hast du gesagt?« »Ich fahre nicht.«

»So blieb ich«, erzählte Erich Wiedeck dem Freund, der Dunkelheit und sich selber, und vielleicht erzählte er es nur, weil es finster war und niemand seine feuchten Augen sehen konnte. »Ich habe ihr gesagt, daß mein Antrag auf Verlängerung des Urlaubs durchgekommen ist und daß ich so lange bleiben darf, bis ich die Ernte einbringe. Aber -«, sagte er, »ich bin nicht nur deswegen geblieben, verstehst du? Der Arzt hatte gesagt, sie muß sich vor der Geburt schonen, aber wie sollte sie sich schonen, wenn ich weg war und wenn sie alles allein machen mußte? Und dann, wenn sie’s nicht machen könnte, was sollten sie essen? Was wäre bei diesen Abgaben von der Ernte für sie übriggeblieben? Die Felder haben getragen wie noch nie - und sie hätten hungern müssen. Verstehst du, warum ich nicht weggehen konnte?«

»Ja«, sagte Deutschmann.

»So blieb ich und brachte die Ernte ein. Ich habe geschuftet wie ein Tier. Ich habe fast nicht geschlafen, von frühmorgens bis in die Nacht war ich auf den Feldern, und dann mußte ich auch noch die Hausarbeit machen. Aber -«, und jetzt schwang in seiner flüsternden Stimme Triumph mit, »- aber ich habe die Ernte eingebracht. Alles. Immer habe ich gewartet, daß die Kettenhunde kommen und mich holen. Sie sind nicht gekommen. Es tut mir nur leid .« Er unterbrach sich.

»Was?« fragte Deutschmann.

»Es tut mir nur leid, daß ich nicht noch länger geblieben bin. Bis Erna ihr Kind bekam. Vielleicht ist es ein Sohn. Was meinst du, ob es ein Sohn ist?«

»Sicher«, sagte Deutschmann.

»Ich hätte vielleicht doch noch so lange bleiben können. Aber mit der Zeit, später, als ich die Ernte eingebracht hatte, habe ich es doch mit der Angst zu tun bekommen. So fuhr ich ab. Meine zwei Mädchen brachten mich zum Bahnhof, Erna konnte nicht mit. Die ältere Tochter ist fünf Jahre und heißt Dorthe, und die zweite ist drei Jahre und heißt Elke. Ich fuhr ab und sagte ihnen: Seid immer lieb zur Mutti, weil sie Schweres erleben würde, sie dürften nicht böse sein, und sie versprachen es mir, und ich glaube es ihnen, sie sind brave Kinder, ich glaube es ihnen - wenn ich nur wüßte, ob Erna ... glaubst du, daß alles gutgegangen ist?« fragte er mit zitternder Stimme, lauter, drängend, als könnte ihm Deutschmann als Arzt eine erlösende Antwort geben, die ihn von all den peinigenden Fragen befreien und ihm die Gewißheit geben würde, daß sein Opfer nicht umsonst war.