Vor der Mauer hatten Reihen aus den Verteidigern des Steins Aufstellung genommen. Sie hielten die gezogenen Schwerter, und ihre Brustpanzer und Helme waren so lange poliert worden, bis sie beinahe leuchteten. Die Puffärmel waren schwarz und golden gestreift, und über den Männern wehte das Banner von Tear, ein rotes und gelbes Feld mit drei silbernen Halbmonden. Der Platz direkt hinter dem Tor barst förmlich vor Soldaten, viele in den Farben der Verteidiger, aber viele auch ohne Uniform und nur mit roten und goldenen Armbändern versehen. Das würden die neuen Rekruten sein, die Rand Darlin befohlen hatte anzuwerben.
Es war ein Schauspiel, das Ehrfurcht erwecken sollte. Oder den Stolz eines Mannes streicheln. Rand hielt Tai’daishar vor Darlin an. Unglücklicherweise wurde der König von dem Pfau Weiramon begleitet, dessen Pferd direkt hinter Darlin stand. Weiramon war so dumm, dass Rand ihm eigentlich keine Arbeit unbeaufsichtigt überlassen hätte, ganz zu schweigen von dem Kommando über eine Abteilung Soldaten. Sicher, der kleingewachsene Mann war tapfer, aber vermutlich nur deshalb, weil er nicht schlau genug war, um Gefahren einschätzen zu können. Wie immer sah Weiramon wie ein Narr aus, weil er einfach nicht darauf verzichten konnte, sich wie ein Geck anzuziehen; sein Bart war gewachst, das Haar sorgfältig arrangiert, um die beginnende Glatze zu verbergen, und seine Kleidung war teuer - Mantel und Hosen hatten den Schnitt einer Felduniform, aber kein Mann würde in so kostbaren Sachen in die Schlacht reiten. Abgesehen von Weiramon.
Ich mag ihn, dachte Lews Therin.
Rand zuckte zusammen. Du kannst doch keinen leiden!
Er ist ehrlich, erwiderte Lews Therin und musste lachen. Jedenfalls ehrlicher als ich! Kein Mann ist aus freien Stücken ein Narr, aber er entscheidet sich dafür, loyal zu sein. Wir könnten es schlimmer treffen, als diesen Mann in unserem Gefolge zu haben.
Rand sparte sich eine Erwiderung. Mit dem Verrückten war jede Debatte sinnlos. Lews Therins Entscheidungen stützten sich nur selten auf rationale Gründe. Wenigstens summte er nicht wieder über eine hübsche Frau. Das konnte sehr störend sein.
Darlin und Dobraine verneigten sich vor Rand, Weiramon machte es ihnen nach. Natürlich hatte der König noch andere Begleiter. Lady Caraline war selbstverständlich anwesend; die schlanke Cairhienerin war so schön, wie Rand sie in Erinnerung hatte. Auf ihrer Stirn hing ein weißer Opal, dessen Goldkette mit ihrem dunklen Haar verwoben war. Rand musste sich zwingen wegzusehen. Sie hatte einfach zu große Ähnlichkeit mit ihrer Cousine Moiraine. Und Lews Therin fing unweigerlich an, die Namen der Liste zu zitieren, Moiraine an erster Stelle.
Rand stählte sich und hörte dem Toten in seinem Hinterkopf zu, während er den Rest der Gruppe musterte. Sämtliche noch verbliebenen Hochlords und Ladys von Tear waren da - auf ihren Pferden. Die einfältig lächelnde Anaiyella saß neben Weiramon auf ihrem Braunen. Trug sie tatsächlich ein Taschentüchlein mit seinen Farben? Rand hätte sie für etwas anspruchsvoller gehalten. Torean trug ein Lächeln auf dem feisten Gesicht. Bedauerlich, dass er noch lebte, wo so viele bessere Männer unter den Hochlords gestorben waren. Simaan, Estanda, Tedosian, Hearne waren da - sie alle waren gegen Rand gewesen und hatten die Belagerung des Steins angeführt. Jetzt neigten sie vor ihm das Haupt.
Alanna war auch da. Rand ignorierte sie. Sie war unglücklich, das verriet ihm ihr Bund. Und das geschah ihr auch recht.
»Mein Lord Drache«, sagte Darlin und richtete sich wieder auf. »Danke, dass Ihr Lord Dobraine geschickt habt, um Eure Wünsche auszurichten.« Seine Stimme verriet seinen Unmut. Er hatte sich beeilt, ein Heer aufzustellen, weil Rand darauf gedrungen hatte, und dann hatte Rand ihn gezwungen, wochenlang tatenlos herumzusitzen. Nun, die Männer würden die verlängerte Ausbildung noch zu schätzen wissen.
»Das Heer steht bereit«, fuhr Darlin zögernd fort. »Wir sind bereit zum Aufbruch nach Arad Doman.«
Rand nickte. Ursprünglich war es seine Absicht gewesen, Darlin in Arad Doman aufzustellen, damit er Aiel und Asha’man an anderen Orten einsetzen konnte. Er drehte sich um und betrachtete die Menge, verstand nun gedankenverloren, warum so viele Ausländer darunter waren. Die meisten Einheimischen waren für das Heer rekrutiert worden und standen jetzt zu Reihen aufgestellt im Stein.
Vielleicht waren die Menschen auf dem Platz und in den Straßen gar nicht gekommen, um Rands Ankunft zu bejubeln. Vielleicht glaubten sie, sie würden ihr zum Sieg abrückendes Heer verabschieden.
»Ihr habt gute Arbeit geleistet, König Darlin«, sagte Rand. »Es ist auch Zeit, dass jemand in Tear lernt, Befehlen zu gehorchen. Ich weiß, dass Eure Männer ungeduldig sind, aber sie werden noch etwas länger warten müssen. Macht im Stein Platz für mich, und quartiert Basheres Soldaten und die Aiel ein.«
Darlins Verwirrung steigerte sich. »Gut. Werden wir also nicht in Arad Doman gebraucht?«
»Was Arad Doman braucht, das kann ihm keiner geben«, sagte Rand. »Eure Streitkräfte werden mich begleiten.«
»Natürlich, mein Lord. Und … wo marschieren wir hin?«
»Zum Shayol Ghul.«
43
Versiegelt
Egwene saß stumm in ihrem Zelt, die Hände im Schoß gefaltet. Und brachte ihre Bestürzung, ihren brennenden Zorn und ihre Fassungslosigkeit unter Kontrolle.
Die mollige und hübsche Chesa saß schweigend in der Ecke auf einem Kissen, bestickte den Saum eines von Egwenes Kleidern und sah so zufrieden aus, wie jemand nur aussehen konnte, jetzt, da ihre Herrin wieder da war. Das Zelt lag abgelegen in einem Hain innerhalb des Aes Sedai-Lagers. An diesem Morgen hatte Egwene außer Chesa keinen Dienern den Zutritt gestattet. Sie hatte sogar Siuan abgewiesen, die zweifellos gekommen war, um sich irgendwie zu entschuldigen. Egwene brauchte Zeit zum Nachdenken, um sich vorzubereiten, um ihr Versagen zu akzeptieren.
Und sie hatte versagt. Ja, andere hatten dazu beigetragen, aber diese anderen waren ihre Anhänger und Freunde gewesen. Sie würden genau wissen, wie zornig Egwene über ihren Anteil an diesem Fiasko sein würde. Aber zuerst musste sie den Blick nach innen wenden, herausfinden, was sie hätte besser machen können.
Sie saß auf ihrem Stuhl mit der hohen Lehne, dessen Armlehnen mit geschnitzten Schriftrollen verziert waren. Das Zelt war genauso, wie sie es verlassen hatte; der Schreibtisch war aufgeräumt, die Decken zusammengefaltet, die Kissen in der Ecke aufgestapelt. Offensichtlich hatte Chesa immer Staub gewischt. Es erinnerte an ein Museum, in dem man Kindern die Vergangenheit nahebrachte.
Während ihrer Gespräche im Tel’aran’rhiod war sie Siuan gegenüber so energisch aufgetreten, wie das nur möglich gewesen war, und trotzdem hatte man ihren ausdrücklichen Wunsch ignoriert und sie zurückgeholt. Vielleicht war sie zu geheimnisvoll gewesen. Geheimnisse - die waren gefährlich. Sie hatten Siuan gestürzt. Die Zeit der Frau als Anführerin der Augen und Ohren der Blauen Ajah hatte sie gelehrt, mit Informationen geizig umzugehen, sie wie ein knauseriger Arbeitgeber am Zahltag auszuteilen. Hätten die anderen die Bedeutung von Siuans Tätigkeit gekannt, hätten sie sich vielleicht nicht entschieden, gegen sie zu arbeiten.
Egwene fuhr mit den Fingern über die glatte, eng gewebte Tasche, die sie an den Gürtel gebunden trug. Sie enthielt einen langen, schmalen Gegenstand, den man am Morgen verstohlen aus der Weißen Burg geholt hatte.
War sie in die gleiche Falle wie Siuan getappt? Das war durchaus eine Gefahr. Schließlich hatte Siuan sie ausgebildet. Hätte Egwene genauer erklärt, welche Fortschritte ihre Arbeit in der Weißen Burg machte, hätten die anderen dann nichts unternommen?
Das war schwer zu sagen. Eine Amyrlin musste viele Geheimnisse bewahren. Transparenz würde den Vorteil ihrer Autorität zunichtemachen. Aber Egwene hätte Siuan gegenüber mitteilsamer sein müssen. Die Frau war einfach zu sehr daran gewöhnt, selbstständig zu handeln. Ein deutliches Anzeichen dafür war die Art und Weise, wie sie ihr Traum-Ter’’angreal entgegen der Wünsche des Saals und ohne sein Wissen behalten hatte. Aber Egwene hatte das geduldet, hatte Siuan unbewusst ermuntert, sich der Autorität zu widersetzen.