6. Eilonwy
Als Taran zu sich kam, lag er auf einer Schütte schmutzigen Strohs, von der ein Geruch ausging, als ob sämtliche Vorfahren Gurgis darauf geschlafen hätten. Durch ein Gitterfenster, das sich einige Fuß über seinem Kopf befand, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne herein. Auf dem mit Steinplatten bedeckten Fußboden zeichnete sich der Schatten des Gitters ab. Statt den Raum zu erhellen, ließen die bleichen Sonnenstrahlen ihn nur noch trostloser und bedrückender erscheinen. Nachdem Tarans Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, erkannte er am anderen Ende seines Gefängnisses eine eisenbeschlagene Tür. Die Zelle selbst hatte wenig mehr als drei Schritt im Geviert. Taran schmerzte der Schädel. Da man ihm die Hände auf den Rücken gefesselt hatte, konnte er den schweren, hämmernden Klumpen, den er auf den Schultern trug, nicht anfassen und betasten. Was mit Gwydion geschehen war, wagte er sich nicht auszudenken. Nachdem der Kesselkrieger ihn niedergeschlagen hatte, war Taran bloß einmal für kurze Zeit zur Besinnung gekommen; dann war er wieder in wirbelnde Finsternisse zurückgefallen. Während der kurzen Zeitspanne aber, so erinnerte er sich verschwommen, hatte er die Augen geöffnet und festgestellt, daß einer der Wächter ihn wie einen Sack auf der Schulter trug. Es gab in dem Wirrwarr seiner Erinnerungen auch einen dunklen Gang mit Türen an beiden Seiten. Vermutlich hatte man Gwydion in ein anderes Verlies geworfen. Taran hoffte es jedenfalls. Der Gedanke an Achrens fahles Gesicht und den schrecklichen Zornesausbruch verfolgte ihn. Nicht ausgeschlossen, daß sie befohlen hatte, Gwydion totzuschlagen – oder war ihr daran gelegen, ihn lebend in der Gewalt zu haben?
Der Gedanke an seinen Gefährten erfüllte den Jungen mit Schmerz und Wut. Mühsam richtete er sich auf. Dann warf er sich mit dem bißchen Kraft, das ihm noch verblieben war, gegen die Eichentür. Nichts zu machen! Verzweifelt sank er zu Boden und ließ den Kopf hängen. Kurze Zeit später erhob er sich abermals und klopfte mit den Fußspitzen gegen die Mauer. Vielleicht hörte ihn Gwydion, falls er zufällig in der benachbarten Zelle lag. Aber die Mauern seines Verlieses, das merkte er an dem stumpfen, gedämpften Klang, waren viel zu dick.
Da flog plötzlich ein blitzender Gegenstand durch das Gitterfenster zu Taran herein und fiel auf den Steinboden. Der Junge machte große Augen. Zu seinen Füßen lag eine faustgroße, leuchtende Kugel aus purem Gold. Überrascht schaute Taran zum Fenster empor. Durch das Gitter blickte ihn ein Paar tiefblauer Augen an. „Ach bitte“, sagte eine anmutige Mädchenstimme. „Mein Name ist Eilonwy, und wenn du nichts dagegen hast, könntest du mir die Kugel wieder heraufwerfen, ja? Du brauchst nicht zu glauben, daß ich ein kleines Mädchen sei, weil ich mir die Zeit mit Ballspielen vertreibe: Ich bin keins mehr. Aber für mich gibt es hier mitunter nichts Besseres zu tun, und irgendwie muß man sich ja beschäftigen.“
Taran unterbrach sie und sagte: „Soweit es an mir liegt, würde ich dir gern helfen, Kleine – aber…“
„Ich bin keine Kleine!“ entgegnete Eilonwy. „Wie oft muß ich dir das noch sagen? Du bist offenbar etwas schwer von Begriff. Tut mir leid für dich, es muß schrecklich sein, wenn man dumm ist… Wie heißt du übrigens?“ setzte sie im gleichen Atemzug fort. „Ich habe immer so ein merkwürdiges Gefühl, wenn ich jemandes Namen nicht kenne. Es ist ungefähr so, als ob man zwei linke Hände habe. Du verstehst, was ich damit meine, ja?“
„Ich bin Taran von Caer Dallben“, antwortete der Junge. Doch im nächsten Augenblick stutzte er. Vielleicht war das alles nichts weiter als eine neue Falle.
„Angenehm“, sagte Eilonwy guter Dinge. „Bist du ein großer Heerführer oder ein Kriegsheld, ein Barde, ein Edelmann – oder womöglich ein seltenes Ungeheuer?“
„Ich bin nichts dergleichen“, gestand Taran; und doch fühlte er sich ein wenig geschmeichelt bei dem Gedanken daran, wofür Eilonwy ihn gehalten hatte.
„Was bist du denn dann?“
„Ich?“ sagte Taran. „Ich bin Hilfsschweinehirt.“
Eilonwy war entzückt. „Wie aufregend!“ rief sie. „Von dieser Sorte bist du der erste und einzige, den wir je hatten – es sei denn, der arme Kerl in dem anderen Verlies ist auch einer.“
„Was weißt du von ihm?“ fragte Taran schnell. „Lebt er noch?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Eilonwy. „Als ich durchs Gitter zu ihm hineinschaute, hat er sich nicht bewegt – doch was sagt das schon? Wenn er tot wäre, hätte Achren ihn längst an die Raben verfüttert. Nun aber, wenn du nichts dagegen hast – bitte, die Kugel!“
„Ich kann sie nicht aufheben“, sagte Taran. „Du mußt wissen, daß ich gefesselt bin.“
„Oh!“ meinte Eilonwy überrascht. „Dann wird mir vermutlich nichts anderes übrigbleiben, als sie mir selbst zu holen..
„Wie willst du das anstellen?“ fragte der Junge. „Siehst du nicht, daß ich hier eingesperrt bin?“
„Natürlich sehe ich das“, sagte Eilonwy. „Wenn man jemand in ein Verlies steckt, muß man es wohl auch zusperren. Ich gestehe dir offen, Taran von Caer Dallben, daß du mich mit mancher deiner Äußerungen überraschst. Nimm es mir bitte nicht übel, aber erfordert der Beruf eines Hilfsschweinehirten eigentlich viel Verstand?“
Plötzlich brach hinter den Gitterstäben ein Heidenlärm los. Die blauen Augen verschwanden vom Fenster. Taran konnte sich nicht erklären, was draußen vorging. Er hörte ein schrilles, zorniges Kreischen, dem ein länger anhaltendes Heulen folgte, und schließlich das Klatschen von Peitschenhieben.
Die blauen Augen kehrten nicht wieder. Taran ließ sich aufs Stroh zurücksinken. Wieder umfing ihn die Einsamkeit seiner winzigen Zelle, und plötzlich ertappte er sich dabei, daß er den Wunsch hatte, Eilonwy möchte wiederkommen. Sie war die geschwätzigste kleine Person, die ihm je begegnet war, und sicher genauso verrucht und böse wie alle anderen Bewohner von Spiral Castle – auch wenn es ihm schwerfiel, daran zu glauben. Das Gitter zu Tarans Haupt verdunkelte sich. Nacht brach über die Zelle herein, kühle, schwarze Nacht. Knarrend öffnete sich die schwere Eichentür. Taran hörte, wie etwas zu ihm hereingeschoben wurde, und kroch darauf zu. Es war eine flache Schale, er schnupperte mißtrauisch daran herum. Eine vergiftete Speise etwa? Vorsichtig berührte er den Inhalt mit der Zunge. Die Schale enthielt nur ein wenig Wasser, lauwarm und schal. Taran war so durstig, daß er das Gesicht hineintunkte und es gierig aufschlürfte. Dann ringelte er sich zusammen und versuchte einzuschlafen. Die Riemen, mit denen man ihm die Arme gefesselt hatte, schnitten ins Fleisch, die Hände waren dick angeschwollen und taub. Ein Alptraum befiel ihn. Laut schreiend fuhr er daraus empor. Er faßte sich halbwegs wieder und hörte im nächsten Augenblick ein scharrendes Geräusch unter sich im Stroh. Erschrocken taumelte Taran hoch, das Scharren hielt an. „Geh weg!“ ließ sich eine zarte Stimme vernehmen.
Taran blickte verdattert umher. „Geh vom Stein weg!“
Er trat einen Schritt beiseite. Die Stimme kam unter dem Stroh hervor. „Ich kann ihn nicht hochheben, Dummkopf, solange du draufstehst!“
Taran wich an die Wand zurück. Im Schein der leuchtenden Kugel sah er zu seinem Erstaunen, wie sich eine der steinernen Bodenplatten zu heben begann und von einer unsichtbaren Kraft zur Seite geschoben wurde. Aus der Öffnung im Fußboden tauchte ein schlanker Schatten empor. „Wer bist du?“ fragte Taran entgeistert.
„Wen hast du denn erwartet?“ entgegnete Eilonwy sanft. „Mach bitte keinen solchen Lärm! Ich sagte dir doch, daß ich kommen würde. – Oh, und da ist ja auch meine Kugel!“ Eilonwy bückte sich über den leuchtenden Ball, und das Licht in der Zelle erlosch.
„Wo bist du?“ rief Taran. „Ich kann nichts mehr sehen!“
„Wenn’s weiter nichts ist“, meinte Eilonwy und legte die Kugel wieder auf den Fußboden. Augenblicklich wurde die Zelle von goldenem Licht erfüllt. Taran schaute verwundert drein. „Was ist das?“ rief er.