„Mein Freund ist kein Hilfsschweinehirt“, erklärte Taran, „er ist… Nun, es geht dich nichts an, was er ist.“
„Du bist nicht gerade ein Ausbund an Höflichkeit“, stellte Eilonwy fest. „Trotzdem habe ich keine Lust, mich mit dir herumzustreiten. Sieh lieber zu, daß du hier herauskommst!“
„Aussichtslos“, sagte Taran. „Ich sitze hier fest wie in einer Mausefalle. Gründlicher hätte Achren mich nicht einsperren können…“
„Sag das nicht!“ widersprach ihm Eilonwy. „Wenn ich mein Kleid zerreiße, könnte ich einen Strick daraus drehen und dich daran herausziehen. Glaub mir, ich täte es auf der Stelle, wenn ich auch offen zugebe, daß ich nicht gern in den Gängen herumkriechen möchte, ohne was anzuhaben. Aber ich fürchte, der Strick würde erstens zu dünn sein und zweitens nicht lang genug … Willst du bitte ein Weilchen den Mund halten und mich nachdenken lassen? Warte, ich werfe dir meinen Ball hinunter – da hast du ihn!“
Die goldene Kugel fiel aus der Höhe herab, Taran fing sie auf.
„Nun also, wie sieht es da unten aus?“ fragte Eilonwy neugierig.
Taran leuchtete mit der Kugel umher. „Es scheint eine Art von Kammer zu sein“, berichtete er hinauf. „Außerdem gibt es da einen Stollen …“ Er ging ein paar Schritte weiter. „Ich kann nicht erkennen, wohin er führt. Vielleicht könnte man …“
Hinter ihm prasselte eine Ladung Steine herab. Einen Augenblick später kam Eilonwy nachgerutscht, fiel ihm genau vor die Füße. Taran starrte sie fassungslos an.
„Bist du wahnsinnig?“ rief er. „Ich glaube, du hast den Verstand verloren! Was soll das? Nun sitzen wir beide in dieser verdammten Falle, es ist zum Verzweifeln mit dir!“
Eilonwy wartete lächelnd ab, bis er sich etwas besänftigt hatte, dann sagte sie: „Schimpf dich nur ruhig aus! Wenn du fertig bist, will ich dir etwas erklären, etwas ganz Einfaches. Falls es hier einen Stollen gibt, muß er ja irgendwohin führen – oder nicht? Und wohin er auch führen mag: es steht fest, daß er von hier wegführt.“
„Ich wollte dich nicht beschimpfen“, sagte Taran. „Doch weshalb hast du das getan? Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür.“
„Geh schon weiter!“ erwiderte Eilonwy und erhob sich.
„Ich hab’ mich bereit erklärt, dir zur Flucht zu verhelfen; und was ich versprochen habe, das halte ich.“
Sie nahm Taran die Goldkugel aus der Hand und schritt in den neuen Stollen hinein. Kopfschüttelnd folgte der Junge ihr nach.
8. Die Gruft des Königs
Im Gegensatz zu den oberen Gängen bestanden die Seitenwände des neuen Stollens aus sauber aufgeschichtetem Mauerwerk. Die Decke war gleichfalls aus Steinen gefügt und ruhte auf kräftigen Stützpfeilern, die sich in regelmäßigen Abständen aneinanderreihten. Die Luft war zwar muffig, als habe sie sich seit Jahrhunderten nicht bewegt, doch es ließ sich hier besser und freier atmen als in den oberen Stollen. Außerdem konnten die beiden jetzt nebeneinander gehen und brauchten sich nicht zu bücken.
Taran war es trotz allem nicht wohl zumute. Eilonwy hatte selbst zugegeben, daß sie von diesem Gang keine Ahnung gehabt hatte. Ihr munteres Selbstvertrauen vermochte den Jungen keineswegs zu beruhigen. Obwohl sie sich nicht im geringsten hier unten auskannte, eilte sie unbekümmert dahin. Ihre Sandalen klapperten auf dem Steinboden, das goldene Licht der Kugel in ihren Händen geisterte durch die Finsternis. Sie kamen an einigen Seitengängen vorbei, denen Eilonwy keine Beachtung schenkte. „Wir werden dem Hauptstollen bis an sein Ende folgen“, verkündete sie. „Kann sein, daß er uns ins Freie führt.“ Tarans Bedenken wurden mit jedem Schritt größer.
„Wir hätten an Ort und Stelle bleiben und alles daransetzen müssen, um wieder nach oben zu kommen“, sagte er stirnrunzelnd. „Bis wir das Ende des Ganges erreicht haben, können Tage vergehen.“ Noch etwas machte ihm Sorge. „Ich denke, wir wollten zurück an die Oberwelt“, brummte er, „doch der Stollen führt stetig nach unten. Ich habe den Eindruck, wir gehen nur immer tiefer hinein in den Berg.“
Eilonwy überhörte geflissentlich, was er sagte, und eilte weiter. Plötzlich, nach wenigen Schritten schon, war der Gang zu Ende. Sie standen vor einer Sperre aus Felsblöcken, die ihn ganz und gar ausfüllte. „So was Ähnliches hab’ ich befürchtet!“ rief Taran ärgerlich. „Warum hast du nicht auf mich hören wollen? Wir haben bloß Zeit verloren und nichts erreicht.“
Eilonwy deutete kopfschüttelnd auf die Sperre. „Ich verstehe das nicht“, erklärte sie. „Warum sich wohl jemand die Mühe macht, einen solchen Stollen zu graben und auszumauern, der nirgends hinführt? All diese Heidenarbeit für nichts und wieder nichts? Überleg doch mal!“
„Ach was!“ fiel Taran ihr ins Wort. „Ich wünschte, du würdest aufhören, dir über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die uns nichts angehen. Los jetzt, wir müssen zurück in die Felsenkammer, aus der wir gekommen sind! Und dann nichts wie hinauf in den oberen Stollen, irgendwie werden wir das schon schaffen.“
„Recht hast du“, sagte Eilonwy. „Es ist alles sehr fremd hier und unheimlich. Ich weiß wirklich nicht, wo wir sind …“
„Ich wußte ja, daß wir uns bloß verlaufen würden“, knurrte Taran.
„Wir haben uns nicht verlaufen“, entgegnete Eilonwy eigensinnig. „Im Augenblick weiß ich bloß nicht, wo wir sind. Immerhin ist mir wohlbekannt, daß wir uns unter Spiral Castle befinden – und das ist eine ganze Menge.“
„Du kannst mir mit deinen Haarspaltereien gestohlen bleiben“, sagte Taran. „Du bist ja noch schlimmer als Dallben!“
„Wer ist Dallben?“
„Dallben ist mein – oh, es tut nichts zur Sache!“ Taran machte wütend kehrt und wollte den Rückweg antreten. Eilonwy hielt ihn am Ärmel fest.
„Ob wir in einen der Seitengänge hineinschauen?“ meinte sie.
Taran wollte von ihrem Vorschlag nichts wissen. Trotzdem verlangsamte er an der Mündung des nächsten Seitenganges den Schritt ein wenig und warf einen Blick hinein.
„Los!“ drängte Eilonwy, „laß uns ein Stück hineingehen und uns drin umsehen!“
„Still doch!“ Der Junge streckte den Kopf vor und lauschte angestrengt in den Stollen. Von fern her hörte er etwas wispern und rauschen. „Was das wohl sein mag?“
„Laß uns herausfinden, was es ist!“ Eilonwy stupste ihn in den Rücken. „Vorwärts, geh du voran!“ Der Nebenstollen war enger und niedriger als der Hauptgang und führte noch tiefer hinab in den Berg. Taran folgte ihm langsam und vorsichtig. Mißtrauisch setzte er Fuß vor Fuß, er hatte genug von dem einen Sturz in die Tiefe.
Das Wispern und Rauschen ging in verhaltenes Wehklagen über. Es hörte sich an, als ob jemand an menschlichen Stimmen zupfte, die man zu Saiten gesponnen und straff gespannt hatte. Eisige Luft strich den Gang herauf, brachte Seufzer und dumpfes Gemurmel mit. Irgendwo in der Tiefe des Berges knirschte und kreischte es, als ob Schwerter am Fels gewetzt würden. Taran spürte, wie ihm die Hände zitterten. Er zögerte einen Augenblick, winkte Eilonwy, hinter ihm stehenzubleiben, flüsterte: „Gib mir das Licht und warte hier!“
„Ob es Geister sind?“ fragte Eilonwy. „Leider haben wir keinen Besen, auf den ich spucken könnte. Ein besseres Mittel, um sich vor Geistern zu schützen, gibt es nicht. Aber vielleicht ist es bloß der Wind.“
„Der Wind? Woher sollte denn hier ein Wind kommen?“ fragte Taran. „Aber kann sein, daß du recht hast. Vielleicht gibt es da irgendwo eine Öffnung …“ Entschlossen, sich von den gespenstischen Stimmen nicht bange machen zu lassen, beschleunigte er den Schritt. Eilonwy folgte ihm, ohne sich im geringsten darum zu scheren, daß er es ihr verboten hatte.
Das Ende auch dieses Stollens war bald erreicht. Wiederum standen die beiden vor einer Sperre aus übereinandergeschichteten Steinblöcken. Diesmal entdeckten sie einen Durchschlupf darin. Taran überwand seine Furcht. Auf dem Bauch kriechend, schob er sich unter der Sperre durch. Eilonwy folgte ihm. Sie kamen in eine geräumige Felsenhöhle mit niedriger Decke. Die klagenden Stimmen erschollen nun lauter als je zuvor. Tarans Stirn war ungeachtet des kalten Luftzuges naß vom Schweiß. Die Kugel emporhebend, trat er weiter vor. Nun erkannte er in der Dämmerung Schilde, die von den Wänden herabhingen. Darunter gewahrte er ganze Stapel von Schwertern und Speeren. Sein Fuß stieß an etwas Hartes. Er beugte sich vor – und fuhr erschaudernd zurück. Ihm zu Füßen lag der verdorrte Leichnam eines Mannes. Ein Krieger in voller Rüstung war es. Neben ihm lag ein zweiter, daneben ein dritter, ein vierter – einige zwanzig im ganzen. In ihrer Mitte ruhte auf steinernem Sarkophag eine schattengraue Gestalt.