Eilonwy schenkte den toten Kriegern bloß einen flüchtigen Blick, etwas anderes zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Wenn Achren das wüßte!“ Staunend wies sie auf ganze Berge von Otterfellen und Dutzende irdener Krüge, aus denen Juwelen hervorquollen. Kostbarer Zierat funkelte von den Helmen und Schilden. Eine Anzahl aus Weidenruten geflochtener Körbe floß über von Armreifen, Ringen und glitzernden Halsketten. „Das hätte sie längst herausgeholt, wenn sie davon gewußt hätte!“ meinte Eilonwy. „Achren ist verrückt nach Geschmeide. Sie kann nicht genug bekommen davon, obwohl es ihr gar nicht besonders steht.“
Über die toten Krieger hinwegsteigend, näherte Taran sich der Gestalt auf dem Sarkophag. Es stand für ihn außer Zweifel, daß sie sich hier in der Gruft jenes großen und mächtigen Herrschers befanden, der Spiral Castle vorzeiten erbaut hatte. Reiche Gewänder umhüllten den Leichnam des Königs, Perlen und Edelsteine zierten den breiten Gürtel. Mit seinen Knochenfingern umfaßte der Tote den reich mit Juwelen besetzten Griff seines Schwertes, als sei er bereit, es im nächsten Augenblick aus der Scheide zu ziehen.
Betroffen wich Taran ein Stück zurück. Der tote König, so schien es ihm, blickte ihn warnend an: Wehe dem, der es wagen sollte, ihm seine Schätze zu rauben! Als Taran sich umdrehte, traf ihn ein Windstoß. „Ich glaube, hier ist ein Durchgang!“, rief er. Er lief in die Richtung, aus der sie noch immer die Stimmen der Geister vernehmen konnten.
Dicht über dem Boden öffnete sich ein Stollen. Er spürte den frischen Luftzug, der ihm daraus entgegenwehte, und sog seine Lungen voll. „Mir nach!“ rief er Eilonwy zu. Er riß einem der toten Krieger das Schwert aus den Fäusten und kroch in den Stollen. Der Gang war entsetzlich eng, weit enger, als Taran befürchtet hatte. Auf dem Bauch liegend, kämpfte er sich hindurch. Eilonwy folgte ihm keuchend und prustend nach. Auf einmal ließ sich ein neuer Ton vernehmen, ein fernes Hämmern und Grollen, das ständig zunahm. Die Erde erbebte, dem Jungen dröhnte der Kopf davon. Plötzlich stürzten die Wände des Stollens ein. Baumwurzeln kamen zum Vorschein, der Boden barst auseinander. Im nächsten Augenblick wurde Taran ins Freie hinausgeschleudert und fand sich am Fuß eines überhängenden Felsens wieder.
Ohrenbetäubendes Krachen erfüllte den ganzen Berg. Hoch droben war Spiral Castle zu sehen, in blaue Flammen gehüllt. Ein Windstoß warf Taran zu Boden. Blitze zeichneten sich am Himmel ab, feurigen Bäumen gleich. Eilonwy rief um Hilfe.
Sie steckte noch immer halb in dem engen Stollen. Die Mauern von Spiral Castle wehten wie graue Fetzen im Wind, selbst die Türme wankten. Taran schob Erde und Steinbrocken aus dem Weg.
„Das Schwert ist es!“ jammerte Eilonwy. „Ich hänge damit in den Wurzeln fest!“
Taran packte das Mädchen unter den Armen und zerrte es aus dem Stollen. Sand im Mund, fragte er: „Was für ein Schwert denn?“
„Uff!“ stöhnte Eilonwy. „Ich fühle mich ganz so, als habe mich jemand vollständig auseinandergenommen und hinterher falsch zusammengesetzt! – Was für ein Schwert das ist? Sagtest du nicht, daß wir Waffen brauchten? Auch ich hab’ mir einfach dort unten eins mitgenommen.“
Mit Donnergetöse, das aus der Tiefe des Berges zu kommen schien, stürzte Spiral Castle in sich zusammen. Die Mauern barsten, die Türme schwankten und brachen nieder. Dann wurde es plötzlich still ringsum, totenstill. Der Sturm war verebbt, kein Blatt im Geäst der Bäume rührte sich mehr.
„Du hast mir das Leben gerettet, ich danke dir“, sagte Eilonwy. „Für einen Hilfsschweinehirten bist du ganz schön mutig, das hätte ich kaum von dir erwartet! – Was wohl aus Achren geworden ist?“ fuhr sie fort. „Ich stelle mir vor, sie ist außer sich vor Wut und hat einen schrecklichen Zorn auf mich. Na, wenigstens zürnt mir die alte Hexe diesmal nicht ohne Grund! Was meinst du, wie oft mich Achren für Dinge bestraft hat, an denen ich gar nicht schuld gewesen bin!“
„Wenn sie in Spiral Castle war, dürfte sie kaum noch imstande sein, dir zu zürnen“, meinte Taran. „Doch komm nun endlich, wir wollen gehen!“
Das Schwert aus der Gruft war entschieden zu lang für Eilonwy. Da sie es nicht an der Hüfte tragen konnte, hängte sie es sich kurz entschlossen über die Schulter.
Taran traute seinen Augen nicht, als er näher hinschaute. „Donnerwetter, das ist ja das Königsschwert!“ rief er aus.
„Warum nicht?“ meinte Eilonwy. „Ich finde, das Beste ist immer gerade gut genug.“ Sie hob ihre goldene Kugel hoch. „Wir befinden uns hier an der Rückseite des Schlosses – oder vielmehr seiner traurigen Überreste“, erklärte sie. „Dein Freund muß dort drüben unter den Bäumen sein, falls er auf dich gewartet hat. Es sollte mich freilich wundern, wenn er noch da wäre.“ Nun liefen sie zu den.Bäumen hinüber. Taran erspähte den Schattenriß einer in einen Mantel gehüllten Gestalt und ein weißes Roß.
„Gwydion!“ rief er. „Gwydion!“ In diesem Augenblick brach der Mond aus den Wolken hervor. Die Gestalt im Mantel wandte den Kopf her – und Taran blickte in das Gesicht eines wildfremden Mannes.
9. Fflewddur Fflam
Taran riß das Schwert aus der Scheide. Der Fremde ließ Melyngars Zügel fahren und duckte sich in die Büsche. Blindlings hieb Taran auf Blätter und Zweige los. „Du bist nicht Gwydion!“ schrie er.
„Natürlich nicht!“ schrie der Fremde zurück. „Das habe ich nie behauptet, wie kommst du darauf?“
„Heraus da!“ befahl Taran und drosch immer zorniger auf die Sträucher ein.
„Ich denke nicht dran, solang du mir mit dem Schwert vor der Nase herumfuchtelst! Heda, nun paß doch gefälligst auf, du wirst mir noch weh tun!“
„Auf der Stelle heraus mit dir, oder du bist des Todes!“ brüllte Taran. Er schlug wie ein Rasender mit dem Schwert um sich.
„Laß das sein!“ rief der Fremde. „Befleck dich nicht mit dem Blut eines Wehrlosen!“
Eilonwy, die ein paar Schritte hinter Taran zurückgeblieben war, kam herbeigerannt und ergriff ihn am Arm. „Aufhören!“ rief sie. „Behandelst du so deinen Freund? Da hat man sich alle erdenkliche Mühe gegeben, um ihn aus dem Kerker zu holen – und nun willst du ihn totschlagen!“
Taran riß sich von ihr los. „Verräterin!“ schrie er sie an. „Mein Gefährte ist umgekommen durch deine Schuld! Du steckst mit Achren unter einer Decke, das weiß ich nun! In meinen Augen bist du um kein Haar besser als sie!“ Mit einem Wutschrei erhob er das Schwert gegen Eilonwy.
Schluchzend rannte das Mädchen davon, in den Wald hinein. Taran senkte das Schwert und starrte zu Boden.
Nun endlich wagte der Fremde sich hinter den Büschen hervor. „Tu mir nichts!“ bat er den Jungen. „Wenn ich dies alles geahnt hätte, wäre ich lieber in meinem Gefängnis geblieben, glaub mir das!“ Er tat ein paar zaghafte Schritte auf Taran zu. „Entschuldige vielmals, daß ich dir eine Enttäuschung bereitet habe“, sagte er. „Es schmeichelt mir ungemein, daß du mich für Gwydion gehalten hast, obwohl es zwischen uns beiden kaum eine Ähnlichkeit gibt – oder doch?“
„Ich weiß nicht, wer du bist“, sagte Taran mit rauher Stimme. „Aber das eine weiß ich: Ein braver Mann hat in dieser Nacht statt deiner das Leben gelassen.“