Eilonwy und der Barde erklärten sich einverstanden, ein kleines Stück weiterzugehen. Endlich fanden sie eine von Bäumen und Sträuchern geschützte Mulde, die ihnen als Lager günstig erschien. Taran sattelte Melyngar ab. Ein Glück, daß das Mädchen daran gedacht hatte, Gwydions Habseligkeiten mitzunehmen! Den Mantel, der hinten am Sattel festgeschnallt war, gab er Eilonwy. Fflewddur lehnte die Harfe gegen einen Baum und wickelte sich in sein zerlumptes Gewand ein, so gut es ging. Taran hielt die erste Wache. Der Gedanke an die Kesselkrieger beunruhigte ihn. Jeden Augenblick glaubte er ihre Gesichter irgendwo aus der Finsternis auftauchen zu sehen. Jedes Waldgetier, das vorbeihuschte, jedes Seufzen des Windes jagte ihm neuen Schrecken ein. Später, als seine Wache fast um war, hörte er plötzlich ein Knacken und Rauschen im Dickicht. Diesmal, das wußte er, war es nicht der Wind.
Seine Hand fuhr zum Schwert. Aus den Sträuchern brach etwas Dunkles hervor, kam auf Taran zugerollt. „Reißen-und-Beißen?“ wimmerte eine wohlbekannte Stimme. Eilonwy und der Barde erwachten und setzten sich auf.
„Oho?“ fragte Fflewddur Fflam, sich die Augen reibend. „Etwa ein Freund von dir?“
„Du scheinst seltsame Freunde zu haben“, stellte das Mädchen fest. „Wo hast du den aufgegabelt? So was hab’ ich mein Lebtag noch nicht gesehen!“
„Gurgi ist alles andere als mein Freund!“ rief Taran. „Der elende, feige Schuft hat sich dünngemacht, als die feindlichen Reiter uns anfielen!“
„Gar nicht wahr“, widersprach ihm Gurgi und schüttelte seinen struppigen Kopf. „Wie könnte der arme, getreue Gurgi seine mächtigen Herren und Gönner jemals im Stich lassen?“
„Sag die Wahrheit!“ herrschte ihn Taran an. „Warum hast du vor den Reitern Reißaus genommen?“
„Hauen, Stechen und Knochenbrechen sind Sachen für noble Herren und nichts für den armen, schwachen, bemitleidenswerten Gurgi! Oh, das schreckliche Packen und Zwacken und Kopfabhacken! Gurgi ist weggelaufen, um Hilfe zu suchen, mächtiger Herr…“
„Und mit welchem Erfolg?“ fragte Taran ungehalten. „O Jammer und Pein!“ klagte Gurgi. „Es gab keine Hilfe im grünen Wald, keine Hilfe! Gurgi ist weit, weit umhergelaufen, mit Greinen und Weinen auf zitternden Beinen.“
„Das glaube ich dir schon eher“, sagte Taran. „Was hätte der arme, bejammernswerte Gurgi denn tun sollen, hoher Herr? Etwa darauf warten, bis ihm die fremden Krieger die Kehle durchschneiden? O gräßliches Reiten und Streiten und Schmerzenbereiten!“
„Es war nicht besonders tapfer von ihm“, sagte Eilonwy.
„Aber es war auch das dümmste nicht. Warum hätte Gurgi sich totschlagen lassen sollen, wenn er euch doch nicht helfen konnte?“
„O Weisheit einer edelmütigen Dame!“ rief Gurgi überschwenglich und warf sich Eilonwy zu Füßen. „Wäre der arme Gurgi nicht weggelaufen, so könnte er jetzt nicht hier sein, um Euch zu dienen! Aber er ist ja zurückgekommen, der gute, ehrliche, treue Gurgi – auch wenn er dafür nur Murren und Knurren erntet, und Knüffe und Püffe obendrein.“
„Geh mir bloß aus den Augen!“ sagte Taran. „Ich mag nichts mehr von dir hören!“
Gurgi grinste und zwinkerte mit den Augen. „Der brave, folgsame Gurgi beeilt sich, dem mächtigen Herrn zu gehorchen! Kein Wort mehr davon, was der wachsame Gurgi erspäht hat im grünen Wald, kein Nuscheln und Tuscheln! Die glorreichen Herrschaften mögen nur ungestört weiterschnarchen: der arme, mißverstandene Gurgi geht weinend fort.“
„Komm auf der Stelle zurück!“ rief Taran.
Gurgis Miene erhellte sich. „Reißen-und-Beißen?“
„Wir selbst haben kaum genug zu essen“, sagte Taran. „Aber du sollst deinen redlichen Anteil davon bekommen, wenn du uns alles genau berichtest, was du gesehen hast.“
Gurgi nickte. „Neue und immer neue Feinde sind auf dem Weg durch die Wälder, mit langen Schwertern und scharfen Speeren. Oh, es sind viele, sehr viele! Gurgi hat sie ganz still und leise beobachtet. Doch um Hilfe gebeten hat er sie nicht. Aus Angst vor dem Stechen und Knochenbrechen.“
„Oho!“ rief der Barde. „Ein feindliches Heer im Anzug? Wo ist es? Den Anblick darf ich mir nicht entgehen lassen! Ihr müßt wissen, daß ich ein großer Liebhaber solcher prächtigen Aufzüge bin.“
„Es handelt sich um die Feinde des Hauses Don“, erklärte der Junge. „Sie sammeln sich jenseits des Flusses Ystrad um den Gehörnten König. Wenn Gurgi die Wahrheit sagt, so erhalten sie immer noch Zuzug.“
Der Barde sprang auf. „Ein Fflam fürchtet keine Gefahr! Wir werden die Burschen suchen und in die Pfanne schlagen. Alle Barden des Landes werden von unseren Ruhmestaten zu singen wissen!“
Von Fflewddurs Begeisterung mitgerissen, zog Taran das Schwert. Im nächsten Augenblick fiel ihm ein, wie sich Gwydion wohl verhalten hätte. „Nein“, sagte er langsam, „es wäre töricht, sie anzugreifen. Die Barden würden uns zwar besingen, aber ich fürchte, wir hätten nicht viel davon.“
Fflewddur setzte sich wieder hin, er blickte enttäuscht drein.
„Von mir aus könnt ihr euch über Heldentaten und Ruhmesgesänge streiten, solang ihr wollt“, sagte Eilonwy. „Ich für mein Teil schlafe mich lieber aus.“ Sie rollte sich auf dem Boden zusammen und zog den Mantel über den Kopf.
Mit finsterer Miene nahm Fflewddur auf einer Baumwurzel Platz und begann seine Wache. Gurgi kuschelte sich zu Füßen des Mädchens hin. Taran war zu Tode erschöpft, gleichwohl konnte er nicht einschlafen. In Gedanken sah er den Gehörnten König vor sich und hörte die Schreie der tanzenden Krieger. Was sollte er tun?
Gwydion hatte die Söhne des Hauses Don vor dem Angriff des feindlichen Heeres warnen wollen. Sollte Taran nun versuchen, an seiner Stelle nach Caer Dathyl zu gehen? Was aber wurde dann aus Hen Wen? Mit einem Schlag hatte alles aufgehört, einfach zu sein. Der Junge sehnte sich nach dem Frieden von Caer Dallben zurück, nach der Arbeit im Garten und in der Schmiede. Ruhelos warf er sich auf dem Erdboden hin und her. Er fand keine Antwort auf seine Fragen. Spät erst schlief er von Müdigkeit überwältigt ein und versank in Alpträume.
10. Das Schwert Dyrnwyn
Es war heller Tag, als Taran die Augen öffnete. Gurgi schnüffelte hungrig an Gwydions Satteltaschen herum. Der Junge erhob sich und teilte von den Vorräten soviel an die Gefährten aus, wie er verantworten zu können glaubte.
Gurgi verschlang seine Zuteilung mit freudigem Grunzen. Er schmatzte und schnalzte so eifrig, daß man den Eindruck gewinnen mußte, er habe das Doppelte von dem erhalten, was er in Wirklichkeit bekommen hatte. Fflewddur verzehrte sein dürftiges Mahl mit einem Heißhunger, als habe er mindestens eine Woche lang nichts mehr zu beißen gehabt. Eilonwy indessen widmete ihr gesamtes Augenmerk dem Schwert aus der Königsgruft. Sie hatte es quer über die Knie gelegt und betrachtete es neugierig mit gerunzelter Stirn, die Zungenspitze zwischen die Lippen geklemmt. Als Taran sich näherte, zog sie das Schwert vor ihm weg.
„Hab dich nicht so“, rief der Junge lachend. „Ich werde dir’s schon nicht stehlen!“
Griff und Knauf des Schwertes waren reich mit Juwelen besetzt. Die Scheide hingegen war verbeult und vom Alter geschwärzt. „Komm“, sagte Taran und streckte begierig die Hand aus, „laß mich die Klinge mal sehen!“
„Untersteh dich!“ rief Eilonwy, und zu seiner nicht geringen Überraschung bemerkte der Junge, daß sie ernst und ein wenig furchtsam dreinschaute. „Siehst du das Zauberzeichen hier auf der Scheide?“ fragte sie ihn. „Ich kenne es von Achren her und weiß, daß es ein Verbot bedeutet. Ein strenges Verbot sogar! Sie hat einige Gegenstände besessen, die mit dem gleichen Zauberzeichen versehen waren. Außerdem gibt es da eine Inschrift“, fügte sie stirnrunzelnd hinzu, „leider in alter Schreibweise, die ich nicht ganz entziffern kann. Das beunruhigt mich. Es ist ungefähr so, wie wenn jemand etwas zu sagen anfängt und nicht zu Ende sagt.“