Die Maschine stand leicht schief, der Waldboden neigte sich sanft nach links. Ein Stück weiter vorne sah er Licht zwischen den Bäumen. Er stieg aus der Maschine und ging den Hang hinunter. Irgendwo in der Ferne hörte er den langsamen Rhythmus einer einzelnen Trommel. Er kam zu einer Lücke in den Bäumen und sah unter sich eine befestigte Stadt. Sie war zum Teil verhüllt vom Rauch vieler Feuer, aber er erkannte sie sofort. Ach, zum Teufel, dachte er, ist ja nur Castelgard. Was sollte das denn, daß man ihn hierherschickte?
Es war natürlich Gordon, der hinter all dem steckte. Sein blödsinniges Gefasel, daß die Akademiker enttäuscht seien. Es war Gordon. Der Hurensohn war Chef der Technik gewesen, und jetzt glaubte er, er könne Chef der ganzen Firma werden. Gordon hatte ihn hierhergeschickt, weil er glaubte, er könne nicht zurückkehren. Aber Doniger konnte zurückkehren, und er würde es auch. Kein Problem - weil er nämlich die ganze Zeit einen Keramikmarker bei sich trug. Er hatte ihn in einem Schlitz in seiner Schuhsohle versteckt. Er zog den Schuh aus und schaute in den Schlitz. Ja, die weiße Keramik war da. Aber sie steckte tief im Schlitz und schien sich dort verklemmt zu haben. Als er den Schuh schüttelte, fiel sie nicht heraus. Er probierte es mit einem Zweig, aber der brach ab.
Als nächstes versuchte er, den Absatz abzureißen, aber ohne Hilfsmittel reichte seine Kraft nicht. Was er brauchte, war irgendein Metall, ein Keil oder ein Meißel. In der Stadt würde er so etwas finden, da war er sich ganz sicher.
Er streifte sich den Schuh wieder über, zog Jackett und Krawatte aus und ging weiter den Hang hinunter. Als er sich die Stadt genauer anschaute, fielen ihm einige merkwürdige Details auf. Er stand knapp oberhalb des Osttors in der Stadtmauer, aber das Tor war weit offen. Und auf der Mauer waren keine Soldaten zu sehen. Das war merkwürdig. Was für ein Jahr es auch sein mochte, es war offensichtlich eine Zeit des Friedens — solche Zeiten hatte es im Hundertjährigen Krieg gegeben, zwischen den englischen Invasionen. Niemand arbeitete auf den Feldern. Sie wirkten vernachlässigt, überall wucherte Unkraut. Was ist denn hier los? dachte er.
Er ging auf das Tor zu. Nun sah er, daß es unbewacht war, weil der diensthabende Soldat tot auf dem Rücken lag. Doniger beugte sich über ihn, um ihn genauer anzusehen. Aus den Augenwinkeln liefen Schlieren hellroten Bluts. Anscheinend hat er einen Schlag auf den Kopf bekommen, dachte er.
Nun wandte er sich der Stadt selbst zu. Der Rauch, das sah er jetzt, kam aus kleinen Töpfen, die überall herumstanden, auf dem Boden, auf Mauern, auf Zaunpfosten. Und die Stadt wirkte verlas-sen, menschenleer lag sie im hellen Sonnenlicht. Nur Dinge lagen und standen herum, Werkzeuge, Karren, Fässer, Bündel mit Waren und Lebensmitteln, doch nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen. Er ging zum Markt, auch dort war niemand. Die Stände waren leer, nur hier und dort lagen vertrocknete Gemüsereste. Dann hörte er den Gesang von Mönchen; sie kamen auf ihn zu. Und wieder hörte er die Trommel.
Ein Schauder überlief ihn.
Ein Dutzend Mönche, alle in Schwarz, bog in einer Art Prozession singend um die Ecke. Die Hälfte von ihnen war bis zur Taille nackt und schlug sich selbst mit metallbesetzten Peitschen. Schultern und Rücken bluteten heftig. Flagellanten.
Ja, das waren sie, Flagellanten. Doniger stöhnte leise auf und wich vor den Mönchen zurück, die gemessenen Schritts an ihm vorbeizogen, ohne ihn zu beachten. Er wich weiter zurück und immer weiter, bis er gegen etwas Hölzernes stieß.
Als er sich umdrehte, sah er einen hölzernen Pferdekarren, aber kein
Pferd. Auf dem Karren stapelten sich mehrere Kleiderbündel. Dann sah er einen Kinderfuß aus einem der Bündel herausragen. Und aus einem anderen einen Frauenarm. Das Summen von Fliegen war sehr laut. Eine
Wolke von Fliegen, die über den Leichen schwirrte.
Doniger fing an zu zittern.
Der Arm zeigte schwärzliche Beulen.
Der Schwarze Tod.
Er wußte jetzt, welches Jahr es war. 1348. Das Jahr, als die Pest über Castelgard kam und ein Drittel der Bevölkerung tötete. Und er wußte, wie sie sich verbreitete — durch Flohbisse, durch Berührung und durch die Luft. Schon das Atmen konnte einen Menschen töten. Er wußte, daß die Pest schnell töten konnte, daß die Leute einfach auf der Straße umfielen. Im ersten Augenblick fühlte man sich noch völlig gesund. Und dann fing es an mit Husten und Kopfweh. Eine Stunde später war man tot.
Er war dem Soldaten am Tor sehr nahe gekommen. Nahe an sein
Gesicht.
Sehr nahe.
Doniger ließ sich an einer Mauer zu Boden sinken und spürte, wie er vor Entsetzen erstarrte.
Und wie er so dasaß, fing er an zu husten.
Epilog
Regen fegte über die graue englische Landschaft. Die Scheibenwischer tickten hin und her. Edward Johnston saß vorgebeugt auf dem Fahrersitz, um durch den Regen etwas erkennen zu können. Draußen erstreckten sich flache, dunkelgrüne Hügel, unterteilt von dunklen Hecken, doch alles verschwamm in Regenschleiern. Die letzte Farm lag schon einige Kilometer hinter ihnen.
Johnston fragte: »Elsie, bist du sicher, daß das die richtige Straße ist?«
»Absolut«, sagte Elsie Kastner, die die Karte auf dem Schoß hatte. Sie fuhr die Route mit dem Finger nach. »Sechs Kilometer hinter Cheatham
Cross nach Bishop's Vale abbiegen, und nach eineinhalb Kilometern müßte es da rechts oben liegen.«
Sie deutete auf einen Hügel mit vereinzelten Eichen.
»Ich sehe überhaupt nichts«, sagte Chris vom Rücksitz her.
Kate sagte: »Ist die Klimaanlage an? Mir ist heiß.« Sie war im siebten
Monat schwanger, und ihr war die ganze Zeit heiß.
»Ja, sie ist an«, sagte Johnston.
»Bis zum Anschlag?«
Chris strich ihr beruhigend übers Knie.
Johnston fuhr langsam und suchte nach einem Hinweisschild am Straßenrand. Der Regen ließ etwas nach, die Sicht wurde besser. Und dann sagte Elsie: »Dort!«
Auf der Kuppe des Hügels war ein dunkles Rechteck mit bröckelnden Mauern zu erkennen. »Das soll es sein?«
»Das ist Eltham Castle«, sagte sie. »Oder was davon übrig ist.« Johnston fuhr an den Straßenrand und stellte den Motor ab. EI-sie las aus ihrem Führer vor: »... An dieser Stelle errichtet von John d'Eltham im elften Jahrhundert, mit verschiedenen Ergänzungen und Umbauten aus späterer Zeit. Bemerkenswert ist vor allem die Ruine des Hauptturms aus dem zwölften Jahrhundert und eine Kapelle im englischen gotischen Stil aus dem vierzehnten. Ohne Bezug zu Eltham Castle in London, das aus einer späteren Zeit stammt.« Der Regen hatte fast ganz aufgehört, der Wind trug nur noch vereinzelte Tropfen heran. Johnston öffnete die Fahrertür, stieg aus und zog sich seinen Regenmantel über. Elsie stieg auf ihrer Seite aus, ihre Unterlagen in einer Plastiktüte unter dem Arm. Chris lief um das Auto herum, öffnete Kate die Tür und half ihr heraus. Sie kletterten über eine niedrige Steinmauer und stiegen zur Burg hoch.
Die Ruine war mächtiger, als sie von der Straße aus ausgesehen hatte; hohe Steinmauern, dunkel vom Regen. Dächer und Decken gab es keine mehr, die Räume waren zum Himmel hin offen. Keiner sagte etwas, während sie durch die Anlage gingen. Sie sahen keine Hinweisschilder, keine Erklärungstafeln, nichts, was darauf hindeutete, was dieser Ort gewesen war, nicht einmal auf seinen Namen. Schließlich fragte Kate: »Wo ist sie?«
»Die Kapelle? Da drüben.«
Sie gingen um eine hohe Mauer herum und standen vor einer erstaunlich gut erhaltenen Kapelle mit einem Dach, das irgendwann in der Vergangenheit restauriert worden war. Die Fenster waren nur offene Bögen in der Mauer, ohne Glas. Eine Tür gab es nicht, nur einen offenen Torbogen.
Im Innern blies der Wind durch Ritzen und Fensteröffnungen. Wasser tropfte vom Dachstuhl. Johnston zog eine große Taschenlampe heraus und leuchtete die Wände ab.