Was für ein Idiot hatte einen Namen wie Nigel?
Am nächsten Morgen hing Kate wieder in der Kapelle von Ca-stelgard.als ihr Funkgerät knisterte und sie den Schrei hörte: »Heiße Tamales! Heiße Tamales. Planquadrat vier. Mittagessen ist fertig. Kommt und holt es euch.«
Das war der Signalruf des Teams, wenn jemand eine neue Entdeckung gemacht hatte. Für alle wichtigen Mitteilungen benutzten sie Codewörter, weil sie wußten, daß die örtlichen Behörden manchmal ihren Funkverkehr abhörten. Bei anderen Ausgrabungen hatte die Regierung gelegentlich Agenten geschickt, die alle Funde sofort nach der Entdeckung konfiszierten, bevor die Forscher Gelegenheit hatten, sie zu dokumentieren und zu bewerten. Obwohl die französische Regierung ein durchaus verständiges und aufgeklärtes Verhältnis zu historischen Kulturgütern hatte — in vieler Hinsicht ein besseres als die Amerikaner -, waren die einzelnen Inspektoren vor Ort oft berüchtigt für ihre Ignoranz. Und natürlich begegnete man häufig auch dem Vorurteil, daß Fremde sich die ruhmreiche Geschichte Frankreichs unter den Nagel rissen.
Planquadrat vier, das wußte sie, lag drüben beim Kloster. Sie überlegte, ob sie in der Kapelle bleiben oder den weiten Weg bis dort hinüber machen sollte, und beschloß schließlich zu gehen. In Wahrheit war ein Großteil ihrer täglichen Arbeit langweilig und ereignislos. Und sie alle brauchten das Wiederanfachen der Begeisterung, das eine neue Entdeckung mit sich brachte.
Sie ging durch die Ruinen von Castelgard. Wie kaum ein anderer konnte Kate die Stadt im Geiste wiederaufbauen und sie so sehen, wie sie einmal war. Ihr gefiel Castelgard, es war eine zweckorientierte Stadt, entworfen und gebaut in Zeiten des Krieges. Sie besaß all die unkomplizierte Authentizität, die Kate im Architek-turstudimn so vennißt hatte.
Sie spürte die Sonne heiß auf Hals und Beinen und dachte zum hundertsten Mal, wie froh sie doch war, hier in Frankreich zu sein und nicht in New Haven an ihrem engen kleinen Arbeitsplatz im sechsten Stock des Arts and Architecture Building mit seinen großen Panoramafenstern und dem Ausblick auf das pseudokoloniale Davenport College und das pseudogotische Payne Whitney Gym. Kate hatte das Architekturstudium deprimierend gefunden und das A & A Building sehr deprimierend, und ihren Wechsel zur Geschichte hatte sie nie bereut.
Jedenfalls war gegen einen Sommer in Frankreich nichts einzuwenden. Es gefiel ihr sehr gut in diesem Team hier an der Dordogne. Bis jetzt war es eine angenehme Zeit gewesen.
Natürlich hatte sie einige Männer abwehren müssen. Anfangs hatte es Marek versucht, dann Rick Chang, und jetzt würde sie sich auch noch mit Chris Hughes herumschlagen müssen. Chris litt stark unter der Zurückweisung durch das britische Mädchen — anscheinend war er der einzige im ganzen Perigord gewesen, der es nicht hatte kommen sehen —, und jetzt führte er sich auf wie ein verletztes Hündchen. Gestern abend während des Essens hatte er sie die ganze Zeit angestarrt. Männer schienen einfach nicht zu begreifen, daß Anmache aus einer Enttäuschung heraus für das neue Gegenüber etwas Beleidigendes hatte. Gedankenverloren ging sie zum Fluß, wo das kleine Boot vertäut lag, das vom Team zur Überfahrt benutzt wurde. Und dort wartete, mit einem Lächeln im Gesicht, Chris Hughes. »Ich rudere«, sagte er, als sie ins Boot stiegen. Sie ließ ihn. Mit langsamen Zügen setzte er das Boot in Bewegung. Sie sagte nichts, schloß nur die Augen und drehte das Gesicht der Sonne entgegen. Es war warm und entspannend. »Ein schöner Tag«, hörte sie ihn sagen. »Ja, schön.«
»Weißt du, Kate«, begann er, »das Abendessen gestern hat mir wirklich gefallen. Ich habe mir gedacht, vielleicht -«
»Das ist sehr schmeichelhaft, Chris«, erwiderte sie. »Aber ich muß ehrlich mit dir sein.«
»Wirklich? Inwiefern?«
»Ich habe gerade erst mit jemandem Schluß gemacht.« »Oh. Aha...«
»Und ich will jetzt eine Weile allein bleiben.«
»Oh«, sagte er. »Sicher. Ich verstehe. Aber vielleicht könnten wir trotzdem ... «
Sie schenkte ihm ihr nettestes Lächeln. »Ich glaube nicht.«
»Oh. Okay.« Sie sah, daß sein Gesicht sich zu einem Schmollen verzog.
Doch dann sagte er: »Weißt du, du hast recht. Ich glaube wirklich, es ist das beste, wenn wir einfach nur Kollegen bleiben.«
»Kollegen«, sagte Kate, und sie schüttelten sich die Hände.
Mit einem Knirschen landete das Boot am anderen Ufer.
Beim Kloster standen eine Menge Leute am Rand von Planquadrat vier und schauten hinunter in die Grube.
Es war ein exakt quadratisches Loch von sieben Metern Kantenlänge und drei Metern Tiefe. An der Nord- und der Ostseite hatten die Ausgräber die Schmalseiten von Steinbögen freigelegt, was daraufhindeutete, daß die Grabung die Katakomben unterhalb des Klosters erreicht hatte. Die Bögen waren angefüllt mit dichtgepackter Erde. In der Woche zuvor hatten sie einen Graben durch den nördlichen Bogen ausgehoben, aber der schien nirgendwohin zu fuhren. Er war mit Brettern vernagelt und wurde nicht weiter beachtet. Jetzt richtete sich die ganze Aufmerksamkeit auf den östlichen Bogen, wo sie in den letzten Tagen einen weiteren Graben ausgehoben hatten. Die Arbeit war nur langsam vorangekommen, weil sie immer wieder menschliche Überreste fanden, die Rick Chang als die Leichen von Soldaten identifizierte.
Als Kate nach unten schaute, sah sie, daß die Wände des Grabens auf beiden Seiten eingestürzt waren, die Erde war nach innen gerieselt und hatte den Graben selbst wieder aufgefüllt. Jetzt lag ein riesiger Haufen Erde da, der ein Weiterkommen unmöglich machte, und der Einsturz hatte bräunliche Schädel und lange Knochen — Unmengen davon -freigelegt.
Sie sah Rick Chang unten in der Grube, und Marek und Elsie, die ihre Klause verlassen hatte, um hierherzukommen. Elsie hatte ihre Kamera auf ein Stativ montiert und schoß Fotos. Diese wür-den später im Computer zu 360-Grad-Panoramaansichten montiert werden. Fotografiert wurde in Stundenintervallen, um jede Phase der Ausgrabung zu dokumentieren.
Marek hob den Kopf und sah Kate am Rand stehen. »He«, sagte er. »Dich habe ich schon gesucht. Komm runter.«
Sie kletterte die Leiter hinunter. In der heißen Nachmittagssonne roch sie Erde und einen schwachen Fäulnisgestank. Einer der Schädel löste sich aus der Erde und rollte ihr vor die Füße. Aber sie berührte ihn nicht; sie wußte, daß alle Überreste genauso bleiben mußten, wie sie waren, bis Chang sie entfernte.
»Das sind vielleicht die Katakomben«, sagte Kate, »aber diese Knochen wurden hier nicht gelagert. Gab es hier je eine Schlacht?« Marek zuckte die Achseln. »Hier gab es überall Schlachten. Was mich mehr interessiert, ist das da.« Er deutete auf den Bogen, der ohne jede Verzierung war, gerundet und leicht abgeflacht.
Kate sagte: »Zisterziensisch, könnte sogar aus dem zwölften Jahrhundert stammen...«
»Okay, gut. Aber was ist damit?« Direkt unter der Wölbung des Bogens hatte der Einsturz des Grabens eine schwarze Öffnung von etwa einem Meter Durchmesser hinterlassen. »Was denkst du?« fragte sie.
»Ich denke, daß wir da rein sollten. Und zwar gleich.« »Warum?« fragte sie. »Was soll die Eile?«
Chang antwortete: »Es sieht aus, als wäre hinter der Öffnung ein Hohlraum. Eine Kammer, vielleicht mehrere Kammern.«
»Und?«
»Jetzt kommt Luft da hinein. Zum ersten Mal seit vielleicht sechshundert Jahren.«
»Und Luft hat Sauerstoff«, ergänzte Marek. »Glaubt ihr, daß da Artefakte drin sind?«
»Ich weiß nicht, was drin ist«, sagte Marek. »Aber schon wenige Stunden könnten beträchtliche Zerstörungen verursachen.« Er wandte sich an Chang. »Haben wir eine Schlange?«
»Nein, die ist in Toulouse, bei der Reparatur.« Die Schlange war ein Fiberoptikkabel, das mit einer Kamera verbunden werden konnte. Man benutzte sie, um ansonsten nicht zugängliche Hohlräume zu untersuchen.
Kate sagte: »Warum pumpt ihr nicht einfach Stickstoff hinein?« Stickstoff war ein träges Gas und schwerer als Luft. Wenn man es durch die Öffnung pumpte, würde es die dahinterliegenden Kammern anfüllen wie Wasser. Und etwaige Artefakte vor der Korrosion durch den Sauerstoff schützen.