Was nun den Festsaal anging, den sah Kate etwas weiter links, nur noch bröckelnde Mauern, die aber noch immer einen sehr großen Raum umrissen, beinahe dreißig Meter lang. Der riesige offene Kamin — drei Meter hoch und vier Meter breit - war noch zu erkennen. Kate wußte, daß ein Saal dieser Größe immer Steinwände und ein Holzdach gehabt hatte. Und jetzt, da sie genau hinsah, konnte sie wirklich am oberen Mauerrand Einkerbungen erkennen, in die man die mächtigen Querbalken eingepaßt hatte. Darüber hatten wohl Kreuzverstrebungen in die Höhe geragt, die das Dach stützten.
Eine britische Reisegruppe zwängte sich auf der schmalen Mauerkrone an ihr vorbei. Sie hörte die Führerin erzählen: »Diese Festungsmauer wurde von Sir Francis dem Bösen im Jahr 1363 errichtet. Francis war wirklich ein durch und durch gemeiner Kerl. In seinen riesigen Verliesen quälte er gern Männer und Frauen und sogar Kinder. Wenn Sie jetzt nach links schauen, sehen Sie den Sprung der Liebe, wo Madame de Renaud zu Tode stürzte, entehrt, weil sie schwanger war vom Stallburschen ihres Gatten. Es ist jedoch noch immer nicht klar, ob sie sprang oder von ihrem erzürnten Gemahl gestoßen wurde...« Kate seufzte. Wo hatten sie nur immer diese Märchen her? Sie wandte sich wieder ihrem Skizzenblock zu und zeichnete weiter an ihrem Grundriß der Anlage. Auch diese Burg hatte ihre Geheimgänge. Aber Francis der Fette war ein geschickter Architekt gewesen. Seine Geheimgänge dienten vorwiegend Verteidigungszwecken. Ein Gang führte von der Mauerkrone zur entfernten Wand des Festsaals und hinten am Kamin vorbei. Ein anderer folgte der Brustwehr auf der südlichen Mauerkrone.
Aber den wichtigsten Geheimgang hatte sie noch nicht entdeckt. Nach Froissart, einem Geschichtsschreiber des vierzehnten Jahrhunderts, war eine Belagerung der Burg von La Roque nie erfolgreich gewesen, weil die Angreifer den Geheimgang nicht finden konnten, durch den Nahrung und Wasser in die Burg geschafft wurden. Es ging das Gerücht, daß dieser Geheimgang eine Verbindung hiatte zu dem Geflecht von Höhlen im Kalkstein unter der Burg, und auch, daß er sich über eine ziemliche Entfernung erstreckte und in einer verborgenen Öffnung im Felsabhang endete. Irgendwo.
Der einfachste Weg, ihn zu finden, wäre es, das Ende des Gangs in der Burg zu lokalisieren und ihm dann bis zum Anfang zu folgen. Aber um diese Öffnung zu finden, brauchte sie technische Hilfe. Das Beste wäre wahrscheinlich ein Bodenradar. Aber für eine solche Untersuchung brauchte sie die Burg leer. Montags war sie für die Öffentlichkeit geschlossen; vielleicht schafften sie es nächsten Montag, wenn -Ihr Funkgerät knisterte. »Kate?« Es war Marek.
Sie nahm es vom Gürtel und drückte die Sprechtaste. »Ja? Kate hier.« »Komm sofort ins Bauernhaus. Es ist ein Notfall.« Und damit schaltete er ab.
Drei Meter unter Wasser hörte Chris Hughes das gurgelnde Zischen seines Regulators, während er die Leine kontrollierte, die ihn in der starken Strömung der Dordogne an Ort und Stelle hielt. Das Wasser war an diesem Tag relativ klar, die Sichtweite betrug ungefähr drei Meter, und er konnte am Wasserrand den gesamten mächtigen Pfeilersockel der befestigten Mühlenbrücke erkennen. Vom Sockel weg führte eine Spur großer, behauener Steine in gerader Linie quer über den Fluß. Diese Steine waren die Überreste des früheren Brückenbogens.
Chris bewegte sich an dieser Linie entlang und untersuchte sorgfältig die Steine. Er suchte sie nach Einkerbungen oder Vertiefungen ab, die ihm helfen würden zu bestimmen, wo Holz verwendet worden war. Hin und wieder versuchte er, einen Stein umzudrehen, aber das war unter Wasser ziemlich schwierig, weil er den richtigen Angriffspunkt nicht fand.
Über ihm auf der Wasseroberfläche dümpelte ein Plastikfloß mit der rotgestreiften Taucherflagge. Eigentlich diente es dazu, ihn vor den Kajaktouristen zu schützen. Zumindest in der Theorie.
Er spürte einen plötzlichen Ruck, der ihn vom Grund hochriß. Er tauchte auf und stieß sich den Kopf am gelben Rumpf eines Kajaks. Der Fahrer klammerte sich am Plastikfloß fest und rief ihm etwas zu, das wie Deutsch klang.
Chris zog sein Mundstück heraus und sagte: »Würden Sie das bitte in Ruhe lassen!«
Als Antwort kam ein Schwall in Deutsch. Der Kajakfahrer deutete erregt zum Ufer.
»Hör mal, Kumpel, ich weiß nicht, was du —«
Doch der Mann hörte nicht auf zu rufen und mit ausgestrecktem Zeigefinger zum Ufer zu deuten. Chris sah in diese Richtung.
Einer der Studenten stand am Ufer und hielt ein Funkgerät in die Höhe. Er rief etwas. Chris brauchte einen Augenblick, bis er verstand. »Marek will, daß du zum Bauernhaus kommst. Sofort.« »Mein Gott, wie wär's in einer halben Stunde, wenn ich hier fertig -« »Er sagt sofort.«
Dunkle Wolken hingen über den fernen Tafelbergen, es sah aus, als würde es bald regnen. Doniger saß in seinem Büro und legte eben den Hörer auf. »Sie kommen«, sagte er.
»Gut«, entgegnete Diane Krämer. Sie stand vor seinem Schreibtisch,
die Berge im Rücken. »Wir brauchen ihre Hilfe.«
»Leider ja«, sagte Doniger. Er stand auf und ging im Büro auf und ab.
Er war immer ruhelos, wenn er intensiv nachdachte.
»Ich verstehe nur nicht, wie wir den Professor überhaupt verlieren konnten«, sagte Kramer. »Offensichtlich ist er in die Welt getreten.
Obwohl du ihm gesagt hast, er soll es nicht tun. Obwohl du ihm geraten hast, er soll überhaupt nicht reisen. Trotzdem ist er anscheinend in die
Welt getreten.«
»Wir wissen nicht, was passiert ist«, sagte Doniger. »Wir haben nicht den blassesten Schimmer.«
»Außer dem, daß er eine Nachricht geschrieben hat«, sagte Kramer.
»Ja. Nach Kastner. Wann hast du mit ihr gesprochen?«
»Gestern abend«, sagte Kramer. »Sie rief mich an, sobald sie es wußte.
Sie ist für uns eine sehr verläßliche Verbindung, und sie -«
»Egal«, sagte Doniger und wedelte gereizt mit der Hand. »Das ist nicht der Kern.«
Das war der Ausdruck, den Doniger immer verwendete, wenn er etwas für irrelevant hielt. »Was ist der Kern?« fragte Kramer.
»Ihn zurückzuholen«, antwortete Doniger. »Es ist äußerst wichtig, daß wir den Mann zurückbekommen. Das ist der Kern.«
»Keine Frage«, sagte Kramer. »Äußerst wichtig.«
»Persönlich halte ich den alten Knacker ja für ein Arschloch«, sagte Doniger. »Aber wenn wir ihn nicht zurückbekommen, ist das ein
PR-Alptraum.«
»Ja. Hin Alptraum.«
»Aber ich kann damit umgehen.«
»Du kannst damit umgehen, da bin ich mir sicher.«
Im Lauf der Jahre hatte Kramer sich angewöhnt, alles zu wiederholen,
was Doniger sagte, wenn er so auf und ab ging. Für einen Außenseiter sah das aus wie Speichelleckerei, aber Doniger fand es hilfreich. Denn häufig, wenn Doniger ihre Wiederholung hörte, widersprach er ihr.
Kramer begriff, daß sie in diesem Prozeß nur Zuschauerin war. Es mochte zwar aussehen wie ein Gespräch zwischen zwei Leuten, aber das war es nicht. Doniger redete nur mit sich selbst.