Das Auto hielt vor dem größten Gebäude. Ein Wachmann öffnete die Tür. »Willkommen bei ITC«, sagte er mit einem breiten Lächeln. »Mr. Doniger erwartet Sie bereits.«
Doniger ging schnellen Schritts mit Gordon den Gang hinunter. Krämer folgte ihnen. Im Gehen überflog Doniger ein Blatt Papier mit Namen und Hintergrundinformationen zu jedem der Besucher. »Was für einen Eindruck machen sie, John?«
»Einen besseren, als ich erwartet habe. Sie sind in gutem körperlichem
Zustand. Sie kennen die Gegend. Sie kennen die Zeit.«
»Und wieviel Uberredungsarbeit wird nötig sein?«
»Ich glaube, Sie sind bereit. Du mußt nur vorsichtig sein, wenn du über die Risiken sprichst.«
»Willst du damit andeuten, daß ich nicht völlig ehrlich sein soll?« fragte Doniger.
»Du mußt nur aufpassen, wie du es formulierst«, sagte Gordon. »Sie sind sehr intelligent.«
»Wirklich? Na, dann wollen wir mal sehen.« Und er stieß die Tür auf.
Kate und die anderen saßen in einem sachlichen, spärlich möblierten Konferenzraum - ein zerkratzter Resopaltisch und Klappstühle. An einer Wand hing eine große, mit Formeln vollgekritzelte Tafel. Die Formeln waren so lang, daß sie die gesamte Breite der Tafel einnahmen. Für Kate waren sie völlig unverständlich. Sie wollte eben Stern fragen, was diese Formeln bedeuteten, als Robert Doniger in den Konferenzraum rauschte.
Kate war überrascht, wie jung er war. Er sah nicht viel älter aus als sie und ihre Begleiter, vor allem, da er Turnschuhe, Jeans und ein Quicksilver-T-Shirt trug. Obwohl es mitten in der Nacht war, schien er voller Energie zu sein; er ging schnell um den Tisch her-um gab jedem die Hand und begrüßte ihn mit Namen. »Kate«, sagte er und lächelte sie an. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich habe Ihren
Zwischenbericht über die Kapelle gelesen. Sehr beeindruckend.«
Sie war so überrascht, daß sie gerade noch »Danke« herausbrachte,
aber Doniger hatte sich bereits dem nächsten zugewandt.
»Und Chris. Freut mich, Sie wiederzusehen. Mir gefällt, was Sie mit dieser Mühlenbrücke machen. Die Herangehensweise mit der
Computersimulation wird sich bestimmt auszahlen.«
Chris hatte nur Zeit zu nicken, bevor Doniger sagte: »Und David Stern.
Wir haben uns noch nicht kennengelernt. Aber soweit ich weiß, sind Sie ebenfalls Physiker, wie ich.«
»Das stimmt...«
»Willkommen an Bord. Und Andre. Sie werden aber auch nicht kleiner! Mit Ihrem Paper über die Turniere Edwards I. haben Sie es Monsieur Contamine aber gezeigt. Gute Arbeit. Nun aber, bitte setzen Sie sich.« Sie nahmen Platz, und Doniger ging zum Kopfende des Tisches. »Ich will gleich zur Sache kommen«, sagte er. »Ich brauche Ihre Hilfe. Und ich will Ihnen auch sagen, warum. Seit zehn Jahren arbeitet meine Firma an der Entwicklung einer revolutionären neuen Technologie. Es ist keine militärisch nutzbare Technologie. Es ist auch keine kommerziell verwertbare Technologie, aus der sich Profit schlagen läßt. Im Gegenteil, es ist eine völlig menschenfreundliche und friedliche Technologie, die uns allen von großem Nutzen sein wird. Von wirklich sehr großem Nutzen. Aber ich brauche Ihre Hilfe.« »Überlegen Sie nur einen Augenblick«, fuhr Doniger fort, »wie ungleich sich die Technik im zwanzigsten Jahrhundert auf die unterschiedlichen Wissensgebiete ausgewirkt hat. Die Physik benutzt allermodernste technische Errungenschaften - darunter Teilchenbeschleuniger von vielen Kilometern im Durchmesser. Dasselbe gilt für die Chemie und die Biologie. Vor hundert Jahren hatten Faraday und Maxwell winzige private Labors. Darwin arbeitete mit Notizblock und Mikroskop. Aber heute kann keine wichtige wissenschaftliche Entdeckung mehr mit so einfachen Mitteln gemacht werden. Die Naturwissenschaft ist völlig von modernster Technik abhängig. Aber was ist mit den Geisteswissenschaften? Was ist in dieser Zeit mit ihnen passiert?«
Doniger legte eine rhetorische Pause ein. »Die Antwort lautet: nichts. Es gibt keine nennenswerten technischen Hilfsmittel. Der Literaturwissenschaftler oder der Historiker arbeitet noch genau so wie seine Vorgänger vor hundert Jahren. Oh, natürlich gab es einige kleinere Veränderungen bei der Echtheitsprüfung von Dokumenten, es gibt CD-ROMS als Speichermedien und so weiter. Aber die grundlegende alltägliche Arbeit des Forschers ist genau dieselbe geblieben.«
Er sah jeden einzeln an. »Es liegt hier also ein Ungleichgewicht vor. Er herrscht keine Balance zwischen den verschiedenen Bereichen menschlichen Wissens. Die Mediavisten sind stolz darauf, daß in ihrem Forschungsgebiet im zwanzigsten Jahrhundert eine Revolution stattgefunden hat. Aber die Physik hat im selben Jahrhundert drei Revolutionen erlebt. Vor hundert Jahren diskutierten die Physiker über das Alter des Universums und die Quelle der Energie der Sonne. Kein Mensch auf Erden kannte die Antwort. Heute kennen sie sogar Schulkinder. Heute haben wir das Universum der Länge und der Breite nach durchmessen, wir verstehen es von der Ebene der Galaxien bis hinunter zur Ebene subatomarer Teilchen. Wir haben so viel gelernt, daß wir detailliert über das sprechen können, was in den ersten Minuten nach der Geburt des explodierenden Universums passiert ist. Was haben Mediävisten dem an Fortschritten in ihrem Bereich entgegenzusetzen? Niemand hat je eine Technologie entwickelt, die den Historikern nützt — bis jetzt.«
Eine meisterhafte Vorstellung, dachte Gordon. Eine von Donigers besten — charmant, dynamisch, zuweilen fast euphorisch. Tatsache war aber, daß Doniger ihnen eben nichts anderes geliefert hatte als eine aufregende Begründung für das Projekt, ohne auch nur ein Wort über seinen wahren Zweck zu verlieren. Ohne ihnen zu sagen, was wirklich los war.
»Aber wie gesagt, ich brauche Ihre Hilfe. Ich brauche sie wirklich.« Donigers Stimmung schien sich zu ändern. Er sprach jetzt langsam, ernst, besorgt. »Sie wissen, daß Professor Johnston zu uns kam,
weil er glaubte, wir würden ihm Informationen vorenthalten. In gewisser Weise haben wir das sogar getan. Wir hatten Informationen, die wir nicht weitergegeben haben, weil wir nicht erklären konnten, woher wir sie hatten.«
Und, dachte Gordon, weil Kramer Mist gebaut hat. »Professor Johnston hat uns bedrängt«, fuhr Doniger fort. »Sie kennen ja seine Art. Er drohte uns sogar mit der Presse. Und schließlich zeigten wir ihm die Technologie, die wir Ihnen jetzt gleich zeigen werden. Als er es sah, war er sehr aufgeregt — wie Sie es gleich sein werden. Aber er bestand darauf, in diese Zeit zurückzureisen und sich alles selbst anzusehen.«
Doniger hielt inne. »Wir wollten nicht, daß er geht. Wieder drohte er uns. Schließlich hatten wir keine andere Wahl, als ihn gehenzulassen. Das war vor drei Tagen. Er ist noch immer dort. Er hat Sie um Hilfe gebeten, mit Hilfe einer Nachricht, von der er wußte, daß Sie sie finden würden. Sie kennen die Gegend und die Zeit so gut wie sonst niemand auf der Welt. Sie müssen zurückgehen und ihn holen. Sie sind seine einzige Chance.«
»Was genau ist mit ihm passiert, nachdem er zurückging?« fragte Marek.
»Das wissen wir nicht«, erwiderte Doniger. »Aber er hat sich nicht an die Regeln gehalten.« »Welche Regeln?«
»Sie müssen verstehen, daß diese Technologie noch immer sehr neu ist. Wir waren bis jetzt sehr vorsichtig in der Art, wie wir sie benutzen. Seit zwei Jahren schicken wir nun schon Beobachter zurück in die Vergangenheit, und wir nehmen dazu Ex-Marines, militärisch geschulte Leute. Aber die sind natürlich keine Historiker, und wir haben sie immer an der kurzen Leine gehalten.« »Das heißt?«
»Wir haben unseren Beobachtern nicht gestattet, die Welt zu betreten.
Wir haben sie nie länger als eine Stunde dortgelassen. Und wir haben ihnen nicht gestattet, sich mehr als fünfzig Meter von der Maschine zu entfernen. Kein Mensch hat je diese Maschine hinter sich gelassen und ist in die Welt marschiert.«