»Dann kontrolliert Oliver also beide Städte?« fragte Marek. »Im Augenblick ja. Doch eine Kompanie abtrünniger Ritter, unter der Führung des amtsenthobenen Priesters Arnaut de Cervole —« »Dem Erzpriester«, sagte Marek.
»Ja, genau, dem Erzpriester, stößt in diese Gegend vor und wird zweifellos versuchen, Oliver die Burgen abzunehmen. Wir schätzen, daß der Erzpriester noch einige Tagesreisen entfernt ist. Aber die Kämpfe können jederzeit ausbrechen, wir werden uns deshalb beeilen.« Sie ging zu einer anderen Karte mit größerem Maßstab. Sie zeigte die Klostergebäude.
»Wir kommen ungefähr hier an, am Rand des Foret de Sainte Mere. Von diesem Punkt aus sollten wir genau auf das Kloster hinunterschauen können. Da die Botschaft des Professors aus dem Kloster kam, werden wir direkt dorthin gehen. Wie Sie wissen, nimmt man in einem solchen Kloster die Hauptmahlzeit um zehn Uhr vormittags ein, und der Professor dürfte um diese Zeit anwesend sein. Mit etwas Glück finden wir ihn dort und bringen ihn zurück.«
Marek fragte: »Woher wissen Sie das alles? Ich dachte, es hat noch niemand die Welt betreten.«
»Das stimmt. Das hat noch niemand. Aber Beobachter, die dicht bei ihren Maschinen geblichen sind, haben uns trotzdem soviel an Informationen zurückgebracht, daß wir über diese Zeit Bescheid wissen. Sonst noch Fragen?« Sie schüttelten den Kopf, nein.
»Nun gut. Es ist sehr wichtig, daß wir den Professor finden, solange er noch im Kloster ist. Wenn er nach Castelgard oder La Roque geht, wird es viel schwieriger. Wir haben ein sehr enges Missionsprofil. Ich gehe davon aus, daß wir zwischen einer und drei Stunden dort sind. Wir bleiben die ganze Zeit zusammen. Falls wir getrennt werden, benutzten Sie Ihre Ohrstöpsel, um wieder zusammenzufinden. Wir holen den Professor und kehren sofort zurück. Okay?«
»Verstanden.«
»Sie haben eine Eskorte, die aus zwei Leuten besteht. Ich selbst und Victor Baretto, dort drüben in der Ecke. Sag hallo, Vic.« Der zweite Begleiter war ein mürrischer Kerl, der aussah wie ein ExMarine - ein zäher und fähiger Mann. Barettos Kleidung wirkte eher wie die eines Bauern aus dieser Zeit, sie war weit geschnitten und schien aus einer Art Sackleinen zu bestehen. Er nickte nur und winkte knapp. Anscheinend war er schlechter Laune. »Okay«, sagte Gomez. »Weitere Fragen?« Chris sagte: »Professor Johnston ist jetzt seit drei Tagen dort?« »Stimmt.«
»Was glauben die Leute, wer er ist?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Gomez. »Wir wissen nicht, warum er die Maschine überhaupt verlassen hat. Er muß einen Grund gehabt haben. Aber da er in der Welt ist, dürfte es für ihn das einfachste sein, als Schreiber aufzutreten oder als Gelehrter aus London auf einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela in Spanien. Sainte-Mere liegt auf der Pilgerroute, und es ist nicht ungewöhnlich, daß Pilger ihre Reise unterbrechen und einen Tag oder eine Woche bleiben, vor allem, wenn sie sich mit dem Abt anfreunden, der ein ziemliches Original ist. Vielleicht hat der Professor das getan. Vielleicht auch nicht. Wir wissen es einfach nicht.«
»Einen Moment mal«, sagte Chris Hughes. »Wird seine Anwesenheit nicht die örtliche Geschichte ändern? Wird er nicht den Ausgang von
Ereignissen beeinflussen?«
»Nein, das wird er nicht.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil er es nicht kann.«
»Was ist mit den Zeitparadoxa?«
»Zeitparadoxa?«
»Genau«, sagte Stern. »Sie wissen schon, Sie reisen in die Vergangenheit und bringen Ihren Großvater um, so daß Sie nicht geboren werden und nicht zurückgehen können, um Ihren Großvater umzubringen —«
»Ach, das.« Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Es gibt keine Zeitparadoxa.«
»Was soll das heißen? Natürlich gibt es die.«
»Nein, die gibt es nicht«, sagte nun eine entschiedene Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich um, Doniger stand in der Tür. »Zeitparadoxa finden nicht statt.«
»Was soll das heißen?« fragte Stern. Es ärgerte ihn, daß man seine Frage so unwirsch abtat.
»Die sogenannten Zeitparadoxa«, sagte Doniger, »haben nicht wirklich mit der Zeit zu tun. Sie haben mit Theorien über die Geschichte zu tun, die verführerisch, aber falsch sind. Verführerisch, weil sie einem vorgaukeln, man könne Einfluß auf den Lauf der Ereignisse nehmen. Und falsch, weil man das natürlich nicht kann.« »Man kann keinen Einfluß auf Ereignisse nehmen?« »Nein.«
»Natürlich kann man das.«
»Nein. Das kann man nicht. Am einfachsten zu verstehen ist das, wenn wir ein zeitgenössisches Beispiel nehmen. Sagen wir, Sie gehen zu einem Baseballspiel. Die Yankees gegen die Mets — was die Yankees natürlich gewinnen werden. Sie wollen das Ergebnis ändern, so daß die Mets gewinnen. Was können Sie tun? Sie sind nur ein Mensch in einer Riesenmenge. Wenn Sie versuchen, zur Spielerbank zu gehen, wird man Sie stoppen. Wenn Sie versuchen, aufs Spielfeld zu laufen, wird man Sie wegschaffen. Die meisten Aktionen, die Ihnen zur Verfügung stehen, werden mißlingen und daher den Ausgang des Spiels nicht ändern. Sagen wir, Sie entscheiden sich für eine extremere Aktion: Sie wollen den Werfer der Yankees erschießen. Aber in dem Augenblick, da Sie die Waffe ziehen, werden Sie wahrscheinlich schon von Fans, die in der Nähe stehen, überwältigt. Auch wenn Sie einen Schuß abgeben können, werden Sie mit ziemlicher Sicherheit danebenschießen. Und falls Sie den Werfer wirklich treffen, was kommt dabei heraus? Ein anderer Werfer wird seinen Platz ein-nehmen. Und die Yankees gewinnen das Spiel.
Sagen wir, Sie greifen zu einer noch extremeren Aktion. Sie wollen ein Nervengas freisetzen und alle im Stadion töten. Auch das wird Ihnen wahrscheinlich nicht gelingen, aus denselben Gründen, warum Sie keinen Schuß abgeben können. Aber auch wenn Sie es schaffen, alle zu töten, haben Sie dennoch den Ausgang des
Spiels nicht verändert. Sie können jetzt einwenden, daß Sie der Geschichte eine andere Richtung gegeben haben - vielleicht stimmt das ja —, aber Sie haben die Mets nicht in die Lage versetzt, das Spiel zu gewinnen. In Wirklichkeit gibt es nichts, was Sie tun können, um den Mets zu einem Sieg zu verhelfen. Sie bleiben, was Sie immer waren: ein Zuschauer.
Und dieses Prinzip trifft auf die große Mehrheit geschichtlicher Umstände zu. Ein einzelner Mensch kann wenig tun, um die Ereignisse in bedeutsamer Weise zu verändern. Große Massen können natürlich >den Lauf der Geschichte verändernA Aber ein einzelner Mensch? Nein.«
»Das mag ja sein«, entgegnete Stern. »Aber ich kann meinen Großvater töten. Und wenn er tot ist, kann ich nicht geboren werden, ich würde nicht existieren und könnte ihn deshalb nicht erschossen haben. Und das ist ein Paradox.«
»Ja, das ist es - wenn man annimmt, daß Sie Ihren Großvater wirklich erschießen. Aber das könnte sich in der Praxis als schwierig erweisen. Vielleicht begegnen Sie ihm nicht zum richtigen Zeitpunkt. Vielleicht werden Sie unterwegs von einem Bus angefahren. Oder vielleicht verlieben Sie sich. Vielleicht verhaftet Sie die Polizei. Vielleicht töten Sie ihn zu spät, nachdem Ihre Mutter gezeugt wurde. Oder vielleicht stehen Sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber und merken, daß Sie den Abzug nicht drücken können.« »Aber theoretisch...«
»Wenn wir uns mit der Geschichte beschäftigen, sind Theorien wertlos«, sagte Doniger mit einem verächtlichen Winken. »Eine Theorie hat nur einen Wert, wenn sie zukünftige Ereignisse voraussagen kann. Aber Geschichte ist ein Bericht über menschliches Handeln - und keine Theorie kann menschliches Handeln voraussagen.« Er rieb sich die Hände.