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»Nun denn. Sollen wir diese Spekulationen beenden und uns auf den Weg machen?«

Die anderen murmelten zustimmend.

Stern räusperte sich. »Um ehrlich zu sein«, sagte er, »ich glaube nicht, daß ich mitmache.« Marek hatte das schon erwartet. Er hatte Stern während der Bespre-chung beobachtet und gesehen, wie er auf seinem Stuhl hin und her rutschte, als könnte er es sich nicht bequem machen. Und er hatte bemerkt, wie Sterns Ängstlichkeit seit Beginn der Besichtigungstour ständig zugenommen hatte.

Marek selbst war sich sicher, daß er gehen wollte. Seit frühester Jugend war das Mittelalter sein ein und alles gewesen; er hatte sich vorgestellt, auf der Wartburg, in Carcassonne, Avignon und Mailand dabeizusein. Er hatte in den walisischen Kriegen mit Edward 1. gekämpft. Er hatte gesehen, wie die Bürger von Calais ihre Stadt aufgaben, hatte die Messen in der Champagne besucht. Er hatte an den prächtigen Höfen von Eleanor von Aquitanien und des Herzogs von Berry gelebt. Marek würde diese Reise unternehmen, unter allen Umständen. Was Stern anging...

»Tut mir leid«, sagte Stern eben, »aber eigentlich geht mich das alles nichts an. Zum Team des Professors bin ich nur gestoßen, weil meine Freundin in Toulouse einen Ferienkurs besucht. Ich bin kein Historiker. Ich bin Naturwissenschaftler. Und außerdem glaube ich nicht, daß es sicher ist.«

Doniger fragte: »Sie glauben, daß die Maschinen nicht sicher sind?« »Nein, der Ort. Und das Jahr 1357. Nach Poitiers herrschte in Frankreich Bürgerkrieg. Freie Soldatenhorden, die plündernd durchs Land zogen. Überall Banditen und Halsabschneider, und Gesetzlosigkeit pur.«

Marek nickte. Immerhin begriff Stern die Lage. Das vierzehnte Jahrhundert war eine untergegangene Welt und eine gefährliche. Es war eine religiöse Welt, die meisten Leute gingen einmal pro Tag zur Kirche. Aber es war auch eine unglaublich gewalttätige Welt, wo einfallende Armeen jeden töteten, wo Frauen und Kinder beiläufig in Stücke gehackt und Schwangere zum Vergnügen ausgeweidet wurden. Es war eine Welt, in der man das Bekenntnis zu den Idealen der Ritterlichkeit auf den Lippen trug, aber wahllos plünderte und mordete, in der Frauen als machtlos und schwach dargestellt wurden, gleichzeitig riesige Vermögen verwalteten und Burgen beherrschten, sich beliebig Bettgespielen nahmen und Attentate und Rebellionen planten. Es war eine Welt der sich ständig verändernden Grenzen und der sich ständig verändernden Allian-zen, oft von einem Tag zum anderen. Es war eine Welt des Todes, in der die Pest, Krankheiten und unaufhörlicher Krieg herrschten.

Gordon sagte zu Stern: »Ich will Sie auf keinen Fall zwingen.«

»Aber denken Sie daran«, sagte Doniger. »Sie werden nicht allein sein.

Ich gebe Ihnen eine Eskorte mit.«

»Tut mir leid«, sagte Stern noch einmal. »Tut mir leid.«

Schließlich sagte Marek: »Lassen Sie ihn hier. Er hat recht. Es ist nicht seine Zeit, und es geht ihn nichts an.«

»Jetzt, da du es erwähnst«, sagte Chris. »Ich habe nachgedacht: Eigentlich ist es auch nicht meine Zeit. Ich habe es eher mit dem späten dreizehnten als mit der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. Vielleicht sollte ich bei David bleiben —«

»Vergiß es«, sagte Marek und legte Chris den Arm um die Schultern. »Du wirst sehen, dir wird schon nichts passieren.« Marek behandelte es als Witz, obwohl Chris es nicht unbedingt als Witz gemeint hatte. Nicht unbedingt.

Es war kalt in dem Raum. Feuchtkühler Dunst bedeckte ihre Füße und Knöchel. Sie verwirbelten den Dunst, als sie auf die Maschinen zugingen.

Vier Käfige waren an den Sockeln miteinander verbunden worden, ein fünfter stand etwas abseits. »Das ist meiner«, sagte Baretto und stieg in diesen einzelnen Käfig. Er stand aufrecht da, starrte geradeaus und wartete.

Susan Gomez stieg in einen der kombinierten Käfige und sagte: »Alle

übrigen kommen mit mir.« Marek, Kate und Chris stiegen in die Käfige neben ihr. Die Maschinen schienen auf Federn gelagert zu sein, beim

Einsteigen schwankten sie leicht.

»Sind alle soweit?«

Die anderen murmelten und nickten.

Baretto sagte: »Die Damen zuerst.«

»Wie recht du doch hast«, erwiderte Gomez. Die beide schienen sich nicht gerade innig zu mögen. »Okay«, sagte sie zu den anderen. »Los geht's.«

Chris' Herz fing heftig an zu pochen. Er war leicht benommen und fühlte Panik in sich aufsteigen, ballte die Hände zu Fäusten. Gomez sagte: »Entspannen Sie sich. Ich glaube, es wird Ihnen gefallen.« Sie steckte den Keramikmarker in den Schlitz zu ihren Füßen und richtete sich wieder auf.

»Und los. Nicht vergessen: ganz still stehen, wenn's soweit ist.« Die Maschinen begannen zu summen. Chris spürte eine leichte Vibration im Sockel, direkt unter seinen Füßen. Das Summen wurde lauter. Der Dunst wehte von den Sockeln der Maschinen weg. Die Maschinen fingen an zu ächzen und zu kreischen, als würde Metall verbogen. Das Geräusch wurde schnell lauter, bis es so beständig und schrill war wie ein Schrei.

»Das kommt vom flüssigen Helium«, sagte Gomez. »Das kühlt das Metall auf supraleitende Temperaturen ab.« Abrupt endete das Kreischen, und das Knattern begann. »Infrarotfreigabe«, sagte sie. »Jetzt.«

Chris spürte, wie sein ganzer Körper unwillkürlich zu zittern begann. Er versuchte es zu kontrollieren, aber seine Beine wollten ihm nicht recht gehorchen. Wieder spürte er Panik - vielleicht sollte er abbrechen -, aber dann hörte er die Stimme vom Band: »Stillhalten. Augen offen.« Zu spät, dachte er. Zu spät -»Tief einatmen. Anhalten... Jetzt«

Der Ring erschien oberhalb seines Kopfes und wanderte schnell bis zu den Füßen. Es klickte, als er den Sockel berührte. Einen Augenblick später gab es einen blendenden Lichtblitz - heller als die Sonne -, der von überallher zu kommen schien, doch er spürte überhaupt nichts. Genaugenommen hatte er unvermittelt das Gefühl kalter Distanziertheit, als würde er eine entfernte Szene betrachten. Die Welt um ihn herum war völlig still.

Er sah, daß Barettos Maschine größer wurde und plötzlich hoch über ihm aufragte. Baretto, ein Riese mit einem mächtigen Gesicht voller monströser Poren bückte sich und sah zu ihnen hinunter. Weitere Blitze.

Je größer Barettos Maschine wurde, desto weiter schien sie sich zu entfernen, und auch der Boden dazwischen schien sich zu weiten: eine riesige Ebene aus dunklem Gummiboden, die sich in die Ferne erstreckte. Wieder Blitze.

Der Gummiboden hatte ein Muster aus erhöhten Kreisen. Jetzt wuchsen diese Kreise um Chris herum in die Höhe, wie schwarze Klippen. Bald waren sie so hoch, daß sie wirkten wie Wolkenkratzer, die weit oben zusammenzuwachsen schienen und das Licht verdeckten. Schließlich berührten die Wolkenkratzer einander, und die Welt wurde dunkel. Wieder Blitze.

Einen Augenblick lang sah Chris nur Schwärze, doch dann erkannte er flackernde Lichtpunkte, die wie ein Gitternetz angeordnet waren und sich in alle Richtungen erstreckten. Es war, als befände er sich in einer riesigen, leuchtenden, kristallinen Struktur. Chris sah zu, wie diese Lichtpunkte heller und größer wurden und ihre Ränder verschwammen, bis jeder ein flauschiger, leuchtender Ball war. Er fragte sich, ob es Atome waren.

Jetzt konnte er das Gitter nicht mehr sehen, nur noch die Bälle in seiner nächsten Nähe. Sein Käfig bewegte sich direkt auf einen der leuchtenden Bälle zu, der zu pulsieren und in flackernden Mustern seine Form zu ändern schien.

Dann war er im Inneren des Balls, umgeben von einem strahlend hellen

Nebel, der vor Energie zu vibrieren schien.

Und dann verlöschte der Glanz und war verschwunden.

Er hing in formloser Schwärze. Im Nichts.

Schwärze.

Doch dann sah er, daß er noch immer sank, nun auf die tosende Oberfläche eines schwarzen Meers in einer schwarzen Nacht zu. Das Meer kochte und tobte und warf einen luftigen, blaugetönten Schaum. Je weiter er sank, desto größer wurde der Schaum. Chris sah, daß vor allem eine Blase in einem ganz besonders leuchtenden Blau erstrahlte. Immer schneller bewegte sich seine Maschine auf dieses Leuchten zu, sie raste, und er hatte das merkwürdige Gefühl, daß er mit dem Schaum kollidieren würde, und dann drang er in die Blase ein und hörte ein lautes, durchdringendes Kreischen. Dann Stille. Dunkelheit. Nichts.