Sie lachte. »Ach, das«, sagte sie. »Horchen Sie.«
Einen Augenblick lang stand Chris nur da und lauschte. Er hörte das Zwitschern von Vögeln, das Rascheln eines leichten Windes in den Blattern. Aber ansonsten ... »Ich höre überhaupt nichts.«
»Genau«, sagte Gomez. »Einige Leute bringt das aus der Fassung, wenn sie das erste Mal hierherkommen. Es gibt keinen Umweltlärm: kein Radio, kein Fernsehen, keine Maschinen, keine Autos. Im zwanzigsten Jahrhundert sind wir so an Dauerlärm gewöhnt, daß diese Ruhe unheimlich wirkt.«
»Das wird's wohl sein.« Zumindest fühlte er sich genau so. Er wandte sich von den Bäumen ab und betrachtete den schlammigen Weg, der, von der Sonne beschienen, durch den Wald führte. An einigen Stellen war der Schlamm einen halben Meter tief, aufgewühlt von vielen Hufen.
Das ist eine Welt der Pferde, dachte er.
Keine Maschinengeräusche. Jede Menge Hufspuren.
Er atmete tief ein und stieß die Luft geräuschvoll aus. Sogar die Luft wirkte anders. Prickelnd und aromatischer, als wäre mehr Sauerstoff enthalten.
Als er sich wieder umdrehte, sah er, daß die Maschine verschwunden war. Gomez schien das nicht zu beunruhigen. »Wo ist die Maschine?« fragte er, bemüht, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen. »Weggedriftet.« » Weggedriftet?«
»Wenn die Maschinen voll aufgeladen sind, sind sie ein wenig instabil. Sie neigen dazu, immer wieder aus der jeweiligen Gegenwart zu gleiten. Deshalb können wir sie nicht sehen.« »Wo sind sie?« fragte Chris.
Sie zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht genau. Wahrscheinlich in einem anderen Universum. Egal, wo sie sind, es ist alles in Ordnung mit ihnen. Sie kommen immer wieder zurück.«
Um es zu beweisen, nahm sie ihren Keramikmarker und drückte mit dem Daumennagel auf den Knopf. In immer heller werdenden Lichtblitzen kehrte die Maschine zurück: alle vier Käfige, und sie standen genau an derselben Stelle wie einige Minuten zuvor. »Jetzt bleibt sie für eine oder vielleicht zwei Minuten hier«, sagte
Gornez. »Dann driften sie wieder weg. Ich tue nichts dagegen. So sind sie wenigstens aus dem Weg.«
Chris nickte; sie schien zu wissen, wovon sie sprach. Aber Chris war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, daß die Maschinen drifteten; sie waren seine Rückfahrkarte, und es gefiel ihm nicht, daß sie sich nach eigenen Regeln verhielten und beliebig verschwinden konnten. Würde irgendjemand mit einem Flugzeug fliegen, das der Pilot als »instabil« bezeichnete? Er fühlte Kälte auf seiner Stirn und wußte, daß er gleich in kalten Schweiß ausbrechen würde.
Um sich abzulenken, machte Chris sich daran, den anderen zu folgen. Mit tastenden Schritten, um nicht im Schlamm zu versinken, überquerte er den Pfad. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatten, bahnte er sich einen Weg durch das dichte Unterholz, ein Gestrüpp hüfthoher Pflanzen, die aussahen wie Rhododendron. Er drehte sich zu Gomez um. »Gibt's in dem Wald hier irgendwas, vor dem man Angst haben muß?« fragte er.
»Nur Vipern«, sagte sie. »Normalerweise hängen sie in den tieferen
Ästen der Bäume. Wenn man Pech hat, lassen sie sich einem auf die
Schulter fallen und beißen.«
»Toll«, sagte er. »Sind sie giftig?«
»Sehr.«
»Tödlich?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, sie sind sehr selten«, sagte sie. Chris beschloß, keine weiteren Fragen zu stellen. Inzwischen hatte er sowieso eine kleine sonnenhelle Lichtung erreicht. Er schaute nach unten und sah siebzig Meter unter sich die Dordogne, die sich durch Ackerland schlängelte, und dieser Anblick war nicht sehr verschieden von dem, den er bereits kannte.
Doch auch wenn der Fluß derselbe war, war doch vieles in dieser Landschaft anders. Die Burg von Castelgard war völlig intakt, und die Stadt ebenfalls. Außerhalb der Mauer lagen landwirtschaftlich genutzte Parzellen, einige Felder wurden eben gepflügt.
Doch dann richtete er seine Aufmerksamkeit nach rechts, denn dort lag tief unter ihm der mächtige rechteckige Komplex des Klosters - und die befestigte Mühlenbrücke. Seine befestigte Brücke! Die Brücke, die er den ganzen Sommer über studiert hatte - und die leider ganz anders aussah als seine Rekonstruktion am Computer!
Chris sah vier Wasserräder, nicht drei, bewegt von der Strömung, die unter der Brücke hindurchlief. Und auf der Brücke befand sich kein einzelnes, komplexes Gebäude. Es schienen zumindest zwei unabhängige Aufbauten zu sein, wie kleine Häuser. Das größere aus Holz, das andere aus Stein, was darauf hindeutete, daß sie zu verschiedenen Zeiten errichtet worden waren. Aus dem Steinbau quoll unablässig dichter grauer Rauch. Vielleicht machen die hier ja wirklich Stahl, dachte er. Wenn man wasserbetriebene Blasebälge hatte, dann konnte man auch einen richtigen Hochofen haben. Das würde auch die voneinander unabhängigen Aufbauten erklären. Denn in Getreidemühlen durfte sich nirgendwo ein offenes Feuer befinden — nicht einmal eine Kerze. Das war der Grund, warum Getreidemühlen nur tagsüber arbeiteten.
Diese Vertiefung in Details half ihm, sich zu entspannen.
Marek stand da und starrte voller Staunen das Dorf von Castelgard an.
Langsam dämmerte ihm: Er war hier!
Er fühlte sich leicht benommen, fast schwindelig vor Aufregung, während er alle Einzelheiten in sich aufnahm. Auf den Feldern tief unter ihm arbeiteten Bauern, die geflickte Beinlinge und rote, blaue, orange-und rosafarbene Kittel trugen. Die leuchtenden Farben hoben sich grell von der dunklen Erde ab. Viele Felder waren bereits bestellt, die Furchen aufgeschüttet. Es war Anfang April, die Frühjahrsaussaat von Gerste, Erbsen, Hafer und Bohnen - den sogenannten Fastenspeisen — dürfte so gut wie abgeschlossen sein.
Er sah zu, wie ein neues Feld gepflügt wurde, wobei zwei Ochsen den schwarzen eisernen Pflug zogen. Die Pflugschar öffnete die Furche und schob die Erde links und rechts zu kleinen Wällen zusammen. Es freute ihn, als er über dem eisernen Blatt eine Holzleiste erkannte. Das war das Streichbrett, typisch für diese Zeit.
Hinter dem Pflüger ging ein zweiter Bauer einher, der mit weiten, rhythmischen Bewegungen seines Arms säte. Der Sack mit dem Saatgut hing ihm vor dem Bauch. Und ein Stückchen hinter dem Sämann flatterten Vögel über der Furche, um die Samen aufzupicken. Aber es sollte ihnen nicht lange vergönnt sein. In einem Nachbarfeld sah Marek den Egger: ein Mann auf einem Pferd, das ein hölzernes, mit einem großen Stein beschwertes T-Kreuz hinter sich herzog. Diese Egge schloß die Furchen und schützte die Aussaat. Alles schien sich im gleichen langsamen, aber stetigen Rhythmus zu bewegen: die Hand, die die Saat auswarf, der Pflug, der die Furche zog, die Egge, die die Erde ebnete. Und kaum ein Geräusch störte den stillen Morgen, nur Insekten summten und Vögel zwitscherten. Hinter den Äckern sah Marek die sieben Meter hohe Steinmauer, die das Städtchen von Castelgard umgab. Der Stein war von einem dunklen, verwitterten Grau. An einem Abschnitt wurde die Mauer gerade repariert, die neuen Steine waren heller, gelblich grau. Davor krümmten Maurer den Rücken; sie arbeiteten schnell. Und auf der Mauerkrone gingen Wachposten in Kettenhemden auf und ab und blieben manchmal stehen, um nervös in die Ferne zu blicken. Über allem jedoch erhob sich die Burg selbst mit ihren runden Türmen und schwarzen Steindächern. Fahnen flatterten an den Türmen, und alle zeigten das gleiche Emblem: einen kastanienbraunen und grauen Schild mit einer silbernen Rose.
Die Fahnen gaben der Burg ein festliches Aussehen, und tatsächlich wurde direkt vor den Stadtmauern eine große hölzerne Tribüne für die Zuschauer des Turniers errichtet. Bereits jetzt strömte die Menge zusammen. Ein paar Ritter waren zu sehen, die Pferde neben den leuchtend farbigen, gestreiften Zelten angebunden, die überall um den eigentlichen Turnierplatz herum aufgestellt waren. Knappen und Stallburschen bewegten sich zwischen den Zelten und trugen Rüstungen und Waffen oder Wasser für die Pferde.