Vorläufig.«
»Dann stecken sie also fest«, sagte Stern.
»Für den Augenblick ja«, sagte Gordon. »Sie stecken fest. Und es gibt nichts, was wir dagegen tun können.«
36:13:17
Chris Hughes rannte zum Rand des Steilabhangs und warf sich schreiend und mit Armen und Beinen wedelnd ins Leere. Siebzig Meter unter sich sah er die Dordogne, die sich durch die Landschaft schlängelte. Der Fall war zu tief. Er wußte, daß der Fluß zu seicht war. Keine Frage, er würde sterben.
Aber dann sah er, daß der Abhang nicht senkrecht nach unten ging — etwa sieben Meter unter ihm ragte ein Vorsprung aus der Flanke heraus. Es war ein steil nach unten geneigter, fast nackter Felsen mit spärlichem Bewuchs aus verkümmerten Bäumen und Strauchwerk. Er knallte mit der rechten Seite auf den Vorsprung. Der Aufprall nahm ihm den Atem. Sofort begann er hilflos zum Rand zu rollen. Er versuchte sich abzubremsen, indem er verzweifelt nach einem Strauch griff, aber der war zu schwach, er riß ihn aus. Im Rollen bemerkte Chris plötzlich, daß der Junge nach ihm griff, aber er verfehlte die ausgestreckten Hände. Immer weiter rollte er, die Welt drehte sich wild um ihn. Jetzt war der Junge hinter ihm und starrte ihm mit entsetzter Miene nach. Chris wußte, er würde über den Rand rollen, er würde fallen —
Er ächzte, als er gegen einen Baum knallte, scharfer Schmerz zuckte durch seinen Körper. Einen Augenblick lang wußte er nicht, wo er war; er spürte nur Schmerz. Die Welt war grünlichweiß. Nur langsam wurde sein Kopf wieder klar.
Der Baum hatte seinen Sturz zwar gestoppt, aber einige Sekunden lang konnte er überhaupt nicht atmen, so heftig war der Schmerz. Sterne tanzten ihm vor den Augen, und als sie langsam verschwanden, sah er, daß seine Beine über den Rand baumelten.
Und rutschten. Nach unten rutschten.
Der Baum war eine dünne Kiefer, und sein Gewicht bog sie langsam, langsam nach unten. Er spürte, wie er den Stamm entlangrutschte, konnte jedoch nichts dagegen tun. Aber er packte den Stamm und hielt sich daran fest. Es funktionierte: Er rutschte nicht mehr. Langsam zog er sich daran hoch, wieder auf den Felsvorsprung zu. Dann sah er entsetzt, daß die Wurzeln sich aus den Felsspalten lösten, eine nach der anderen schnellte heraus und ragte bleich ins Sonnenlicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der ganze Baum sich lösen würde. Plötzlich spürte Chris ein Zerren am Kragen und sah über sich den Jungen stehen, der ihn wieder auf den Vorsprung zog. Der Junge starrte ihn wütend an. »Kommt endlich!«
»Mein Gott«, sagte Chris und ließ sich schwer atmend auf einen flachen Felsen fallen. »Nur einen Augenblick —«
Ein Pfeil zischte an seinem Ohr vorbei wie eine Kugel. Er spürte den Luftzug. Die Wucht eines solchen Geschosses verblüffte ihn. Voller Angst krabbelte er tief gebückt den Vorsprung hoch, zog sich von Baum zu Baum. Ein zweiter Pfeil rauschte durch die Stämme. Die Reiter standen oben an der Kante und schauten zu ihnen herunter. Der schwarze Ritter schrie: »Trottel! Idiot!« und schlug den Schützen wütend und so heftig, daß ihm der Bogen aus der Hand flog. Nun kamen keine Pfeile mehr.
Der Junge zog Chris am Arm weiter. Chris wußte nicht, wohin dieser Pfad an der Felsflanke entlang führte, aber der Junge schien einen Plan zu haben. Über ihm wendeten die Reiter ihre Pferde und ritten wieder in den Wald zurück.
Jetzt lief der Vorsprung in einen schmalen, kaum dreißig Zentimeter breiten Sims aus, der sich um einen Knick in der Flanke herumbog. Unter dem Sims fiel der Steilhang jäh zum Fluß hin ab. Chris starrte zum Fluß hinunter, aber der Junge packte ihn am Kinn und riß ihm das Gesicht nach oben. »Nicht nach unten sehen! Kommt!« Der Junge drückte sich mit Körper und Armen flach an den Fels und bewegte sich behutsam auf dem Sims vorwärts. Chris, der noch immer heftig atmete, folgte seinem Beispiel. Er wußte. wenn er zögerte, würde er in Panik geraten. Der Wind zerrte an seinen Kleidern und drohte ihn von der Felsflanke wegzuziehen. Er drückte die Wange an den warmen Stein, klammerte sich mit den Fingern an winzige Vorsprünge, kämpfte gegen seine Panik an. Chris sah den Jungen um die Ecke verschwinden und bewegte sich weiter. Es war ein scharfer Knick, und ein Stück des Pfads war weggebrochen, so daß er über die Lücke steigen mußte. Doch dann hatte er die Ecke umrundet und seufzte vor Erleichterung. Er sah, daß die steile Felsflanke in einen langen, bewaldeten Hang überging, der bis hinunter zum Fluß reichte. Der Junge winkte ihm. Noch ein paar Schritte, dann hatte Chris ihn erreicht. »Von hier aus ist es einfacher.« Der Junge lief weiter, und Chris folgte ihm. Doch der Hang war nicht so flach, wie er gedacht hatte. Es war dunkel zwischen den Bäumen, steil und schlammig. Der Junge rutschte aus, schlitterte den schlammigen Pfad hinunter und verschwand im Wald. Chris ging, sich an Ästen festklammernd, vorsichtig weiter. Dann verlor auch er den Halt, fiel mit dem Hintern in den Schlamm und fing an zu rutschen. Aus irgendeinem Grund dachte er: Ich bin Doktorand in Yale. Ich bin Historiker mit dem Spezialgebiet Geschichte der Technik. Es war, als wollte er sich an einer Identität festhalten, die sehr schnell aus seinem Bewußtsein schwand, wie ein Traum, aus dem er erwacht war und den er jetzt vergaß.
Kopfüber rutschte Chris durch den Schlamm, knallte gegen Bäume und spürte, wie Äste ihm das Gesicht zerkratzten, aber er konnte nichts tun, um seinen Fall zu bremsen. Immer weiter ging es den Hügel hinab, immer weiter.
Mit einem Seufzen stand Marek auf. An Gomez' Leiche war kein Marker. Da war er sich ganz sicher. Kate stand neben ihm und biß sich auf die Unterlippe. »Ich weiß, daß sie etwas von einem Reser-vemarker gesagt hat. Ich weiß es einfach.« »Aber ich weiß nicht, wo er ist«, sagte Marek.
Unwillkürlich fing Kate an, sich den Kopf zu kratzen. Dabei spurte sie die Perücke und den Schmerz von der Beule auf ihrem Kopf. »Diese verdammte Perücke...« Sie hielt inne. Und starrte Marek an.
Und dann lief sie in den Wald neben dem Pfad. »Wo ist er hingeflogen?« fragte sie. »Was?« »Ihr Kopf.«
Einen Augenblick später fand sie ihn, und es überraschte sie, wie klein er wirkte. Ein Kopf ohne Körper ist nicht sehr groß. Kate versuchte, den Halsstumpf nicht anzusehen.
Sie unterdrückte ihren Ekel, bückte sich und drehte den Kopf um, so daß sie jetzt das graue Gesicht, die leeren Augen sah. Die Zunge hing halb aus dem schlaff geöffneten Mund. Fliegen summten in der Mundhöhle.
Sie zog die Perücke von Gomez' Kopf und sah sofort den Keramikmarker. Er war an das Netz an der Innenseite der Perücke geklebt. Sie riß ihn los. »Hab ihn«, sagte sie.
Kate drehte ihn in der Hand. An der Seite des Markers war ein Knopf und daneben ein kleines Signallämpchen. Der Knopf war so klein und schmal, daß man ihn nur mit dem Daumennagel drücken konnte.
Das war er. Sie hatten ihn wirklich gefunden.
Marek kam zu ihr und starrte das Keramikplättchen an.
»Sieht aus, als wäre er es«, sagte er.
»Dann können wir zurückkehren«, sagte Kate. »Wann immer wir wollen.«
»Willst du sofort zurück?« fragte Marek sie.
Sie überlegte. »Wir sind hier, um den Professor zu holen«, sagte sie. »Und ich denke, das sollten wir auch tun.« Marek grinste.
Und dann hörten sie das Donnern von Hufen, und sie sprangen ins Gebüsch, nur Sekunden bevor sechs dunkle Reiter den schlammigen Pfad in Richtung Fluß hinuntergaloppierten.
Knietief im Morast des Flußufers stolperte Chris vorwärts. Schlamm klebte ihm auf dem Gesicht, in den Haaren, in den Kleidern. Er war so mit Schlamm bedeckt, daß er dessen Gewicht spürte. Ein Stückchen vor sich sah er den Jungen, er planschte bereits im Wasser und wusch sich.
Chris zwängte sich durch das Gestrüpp am Wasserrand und glitt in den Fluß. Das Wasser war eisig, aber ihm war es egal. Er tauchte den Kopf unter, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und rieb sich das Gesicht, um sich vom Schlamm zu befreien.