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Aber die Wachen beachteten sie kaum. Einer nickte nur abwesend, der andere hatte ihnen den Rücken zugedreht und kratzte sich Schlamm von den Stiefeln.

Chris überraschte diese Gleichgültigkeit. »Warum bewachen sie den Eingang nicht?«

»Warum sollten sie?« sagte der Junge. »Es ist heller Tag. Und wir werden nicht angegriffen.«

Drei Frauen, die Köpfe in weiße Tücher gewickelt, so daß nur die Gesichter zu sehen waren, verließen, mit Körben im Arm, die Burg. Auch ihnen schenkten die Wachen keine Beachtung. Plappernd und lachend gingen die Frauen hinaus - ohne angesprochen zu werden. Chris erkannte, daß er hier mit einem jener historischen Vorurteile konfrontiert war, die so tief verwurzelt waren, daß keiner sie je in Frage stellte. Burgen waren Festungen, und sie hatten immer einen wehrhaften und gesicherten Eingang — mit Burggraben, Zugbrücke und so weiter. Und jeder ging davon aus, daß dieser Eingang immer stark bewacht gewesen war.

Aber, wie der Junge gesagt hatte, warum sollte das so sein? In

Friedenszeiten war eine Burg ein belebtes soziales Zentrum, und

Menschen kamen und gingen, um den Burgherrn zu besuchen oder um

Waren zu liefern. Es gab keinen Grund, das Tor zu bewachen. Vor allem, wie der Junge sagte, bei hellem Tageslicht.

Chris fiel der Vergleich mit modernen Bürogebäuden ein, die nur nachts bewacht wurden; tagsüber war zwar ein Posten anwesend, aber nur, um

Auskunft zu geben. Und vermutlich war es mit diesen Wachen hier ebenso.

Andererseits...

Als er durchs Tor ging, schaute er hoch zu den Spitzen des großen eisernen Fallgitters, das jetzt hochgezogen war. Dieses Gitter konnte in wenigen Augenblicken heruntergelassen werden, das wußte er. Und wenn es heruntergelassen war, gab es keinen Zutritt zur Burg. Und kein Entkommen.

Betreten hatte er die Burg ohne Schwierigkeiten. Aber er war sich nicht so sicher, ob er auch so einfach wieder herauskommen würde.

Sie betraten einen großen, auf allen Seiten von Steinmauern begrenzten Hof. Viele Pferde standen herum, Soldaten mit kastanienbraunen und grauen Überwürfen saßen in kleinen Gruppen zusammen und aßen ihr Mittagsmahl. Oben auf den Mauern erkannte Chris hölzerne Wehrgänge. Direkt vor ihnen lag ein weiteres Gebäude mit drei Stock hohen Steinmauern und Türmen darüber. Es war eine Burg in der Burg. Der Junge führte ihn darauf zu.

Auf einer Seite stand eine Tür offen. Ein einzelner Wachposten stand davor und aß ein Stück Hühnchen. Der Junge sagte: »Zu Lady Claire. Sie wünscht den Irischen zu ihren Diensten.«

»So sei es«, brummte der Posten desinteressiert, und sie gingen hinein. Direkt vor sich sah Chris einen Bogengang, der zum Festsaal führte, wo Gruppen von Männern und Frauen beisammenstanden und redeten. Alle schienen festlich gekleidet, ihre Stimmen hallten von den Steinmauern wider.

Aber der Junge ließ Chris nicht viel Zeit zum Schauen. Er führte ihn eine schmale Wendeltreppe hoch ins zweite Geschoß und dann einen Steinkorridor entlang zu einer Zimmerflucht. Drei ganz in Weiß gekleidete Mägde kamen sofort auf den Jun-

gen zugestürmt und umarmten ihn. Sie schienen sehr erleichtert. »Bei der Gnade Gottes, Mylady, Ihr seid zurück!« Chris fragte: »Mylady?«

Noch während er dies sagte, flog die schwarze Kappe davon, und goldene Haare flössen über ihre Schultern. Sie machte eine leichte Verbeugung, aus der ein Knicks wurde. »Es tut mir aufrichtig leid, und ich bitte Euch von Herzen, mir diesen Trug zu verzeihen.« »Wer seid Ihr?« fragte Chris verblüfft. »Man nennt mich Claire.«

Sie erhob sich und sah ihm direkt in die Augen. Er bemerkte, daß sie älter war, als er gedacht hatte, vielleicht zwei- oder dreiundzwanzig. Und sehr schön.

Chris gaffte nur und schwieg. Er hatte keine Ahnung, was er sagen oder was er tun sollte. Er war verlegen und kam sich töricht vor. In diesem Schweigen trat eine der Mägde vor, knickste und sagte: »Wenn es Euch beliebt, dies ist die Lady Claire of Eltham, Witwe des jüngst verschiedenen Sir Geoffrey of Eltham und Erbin großer Ländereien in Guyenne und Middlessex. Sir Geoffrey starb an den Wunden, die er in Poitiers erlitt, und jetzt ist Sir Oliver — der Herr dieser Burg — Myladys Vormund. Sir Oliver meint, sie müsse wieder heiraten, und hat Sir Guy de Malegant erwählt, einen Edelmann von großem Ansehen in dieser Gegend. Aber Mylady verweigert sich dieser Verbindung.«

Claire drehte sich um und warf dem Mädchen einen warnenden Blick zu. Doch das Mädchen achtete nicht darauf und plapperte weiter. »Mylady sagt vor aller Welt, daß Sir Guy nicht die Mittel hat, ihre Ländereien in Frankreich und England zu verteidigen. Aber Sir Oliver erwartet ein Brautgeld aus dieser Verbindung, und Guy hat -« »Elaine.«

»Mylady«, sagte das Mädchen und trat zurück. Sie gesellte sich wieder zu den anderen Mägden, die in einer Ecke flüsterten und sie offensichtlich tadelten.

»Genug geredet«, sagte Claire. »Hier ist mein Retter an diesem Tag, Squire Christopher de Hewes. Er hat mich bewahrt vor den

Nachstellungen Sir Guys, der sich mit Gewalt nehmen wollte, was ihm bei Hofe aus freien Stücken nicht gewährt wird.«

Chris sagte: »Nein, nein, das war überhaupt nicht so —«

Er brach ab, als er merkte, daß alle ihn mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen anstarrten.

»Fürwahr, er spricht merkwürdig«, sagte Claire, »denn er kommt aus einem abgelegenen Teil des Landes Eire. Und er ist bescheiden, wie es einem Edelmann geziemt. Er hat mich in der Tat gerettet, und so werde ich ihn heute meinem Vormund vorstellen, sobald Sir Christopher angemessen gewandet ist.« Sie wandte sich einem der Mädchen zu. »Hat nicht unser Pferdemeister, Squire Brandon, dieselbe Größe? Geh und hol mir sein blaues Wams, seinen silbernen Gürtel und seine besten weißen Beinlinge.« Sie gab dem Mädchen einen Beutel. »Bezahle ihm, was er verlangt, aber mach schnell.«

Das Mädchen eilte davon. Im Hinausgehen kam es an einem düsteren

älteren Mann vorbei, der im Schatten stand und die Szene beobachtete.

Er trug eine schwere Robe aus kastanienbraunem Samt mit aufgestickten silbernen Lilien und einem Hermelinkragen. »Wie steht's, Mylady?« sagte er und trat zu ihnen.

Sie knickste vor ihm. »Gut, Sir Daniel.«

»So seid Ihr wohlbehalten zurück.«

»Ich danke Gott dafür.«

Der düstere Mann schnaubte. »Das solltet Ihr auch. Ihr stellt sogar seine

Geduld auf eine harte Probe. War Euer Ausflug wenigstens so erfolgreich, wie er gefährlich war?«

Claire biß sich auf die Lippe. »Ich fürchte nicht.«

»Habt Ihr den Abt gesehen?«

Ein leichtes Zögern. »Nein.«

»Sagt mir die Wahrheit, Claire.«

Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Sir, ich habe ihn nicht gesehen. Er war unterwegs, auf der Jagd.«

»Schade«, sagte Sir Daniel. »Warum habt Ihr nicht auf ihn gewartet?« »Ich wagte es nicht, denn Lord Olivers Männer verletzten den Klosterfrieden, um den Magister mit Gewalt wegzuführen. Ich fürchtete, entdeckt zu werden, und floh deshalb.«

»Ja, ja, dieser lästige Magister«, sagte Sir Daniel mit mürrischer

Miene. »Er ist in aller Munde. Wißt Ihr, was man sagt? Daß er in einem Lichtblitz erscheinen kann.« Sir Daniel schüttelte den Kopf. Es war nicht zu erkennen, ob er es glaubte oder nicht. »Er muß ein geschickter Magister des Schießpulvers sein.« Er sprach es schiezen-pulver und sehr langsam aus, als wäre es ein exotisches, ihm unvertrautes Wort. »Habt Ihr den Magister gesehen?« »In der Tat. Ich habe mit ihm gesprochen.« »Wirklich?«