Eine neue Garbe rauschte durch die Luft. Und noch eine und noch eine. Marek zählte. Drei Sekunden zwischen den Garben. Es stimmt also wirklich, dachte er: Englische Bogenschützen konnten zwanzig Schuß pro Minute abgeben.
»Heranstürmende Ritter halten einem solchen Angriff nicht stand«, sagte er. »Die Pfeile töten Reiter und Pferde. Das ist der Grund, warum die englischen Ritter absteigen, um zu kämpfen. Die Franzosen greifen immer noch auf traditionelle Art an, und deshalb werden sie einfach niedergemetzelt, bevor sie überhaupt in die Nähe der Engländer kommen. Viertausend tote Ritter bei Crecy, noch mehr bei Poitiers. Eine hohe Zahl für diese Zeit.«
»Warum ändern die Franzosen nicht ihre Taktik? Sehen Sie denn nicht, was passiert?«
»Sie sehen es, aber es bedeutet das Ende eines ganzen Lebensstils, eigentlich einer ganzen Kultur«, sagte Marek. »Ritter sind alle von Adel; ihre Art zu leben ist zu teuer für das gemeine Volk. Ein Ritter muß sich seine Rüstung und mindestens drei Schlachtrosse kaufen, und er muß für den Unterhalt seines Gefolges aus Knappen und Bediensteten sorgen. Und diese edlen Ritter waren bis jetzt der ent-scheidende Faktor in der Kriegsfuhrung. Doch das ist jetzt vorbei.« Er deutete zu den Bogenschützen auf der Wiese. »Diese Männer kommen aus dem einfachen Volk. Sie gewinnen durch Koordination und Disziplin. Für sie geht es nicht um Heldenmut und Tapferkeit. Sie erhalten einen Lohn und tun ihre Arbeit. Aber sie sind die Zukunft der Kriegsführung - bezahlte, disziplinierte, gesichtslose Truppen. Die Ritter sind am Ende.«
»Außer bei den Turnieren«, entgegnete Chris mürrisch.
»Das ist so ziemlich das einzige, was ihnen bleibt. Aber sogar dort macht sich der Wandel bemerkbar. All diese Flattenpanzer über den
Kettenhemden - das ist alles wegen der Pfeile. Durch einen ungeschützten Mann geht ein Pfeil glatt durch, und er durchdringt auch ein Kettenhemd. Also brauchen die Männer Plattenpanzer. Und die
Pferde ebenfalls. Aber bei einer solchen Garbe...« Marek deutete zu dem surrenden Regen aus Pfeilen. »Da ist es vorbei.«
Chris warf einen Blick zurück zum Turnierplatz. Und dann sagte er:
»Na, wird aber auch langsam Zeit!«
Marek drehte sich um und sah fünf livrierte Pagen, die in Begleitung zweier Wachen in roten und schwarzen Überwürfen auf sie zukamen.
»Jetzt komme ich endlich aus diesem verdammten Metall heraus.«
Chris und Marek standen auf, als die Männer sie erreicht hatten. »Ihr habt die Regeln des Turniers verletzt, den edlen Ritter Guy Malegant entehrt und das Wohlwollen Lord Olivers mißbraucht. Ihr seid verhaftet und habt mit uns zu kommen.«
»Moment mal«, sagte Chris. »Wir haben ihn entehrt?«
»Ihr habt mit uns zu kommen.«
»Moment mal.«
Der Soldat schlug ihm kräftig auf den Kopf und stieß ihn vorwärts. Marek folgte. Flankiert von den Wachen gingen sie zur Burg. Kate war noch immer auf dem Turnier und suchte nach Chris und Andre. Zuerst dachte sie daran, in den Zelten auf der anderen Seite des Turnierplatzes nachzuschauen, aber dort waren nur Männer — Ritter und Knappen und Pferdeknechte —, und deshalb ließ sie es sein. Das hier war eine fremde Welt, Gewalt lag in der Luft, und sie hatte beständig das Gefühl, in Gefahr zu sein. Fast jeder in dieser Welt war jung: Die Ritter, die über den Platz stolzierten, waren Mitte Zwanzig oder Anfang Dreißig, und die Knappen und Burschen waren noch Knaben. Kate war gewöhnlich angezogen und offensichtlich keine Adlige. Wenn man sie einfach davonschleppen und vergewaltigen würde, dachte sie, würde keiner davon Notiz nehmen. Obwohl es Mittag war, merkte sie, daß sie sich verhielt, wie sie es in New Haven bei Nacht tat. Sie versuchte, nie allem zu sein, sondern sich immer in der Nähe einer Gruppe zu bewegen, und um Ansammlungen von Männern machte sie einen weiten Bogen.
Das Johlen der Menge, die das nächste Ritterpaar anfeuerte, in den Ohren, bahnte sich sich einen Weg hinter die Tribünen. Auch zwischen den Zelten links von ihr keine Spur von Chris oder Marek. Und doch hatten sie den Turnierplatz erst vor wenigen Minuten verlassen. Waren sie in einem der Zelte? Seit einer Stunde hatte sie in ihrem Ohrstöpsel nichts mehr gehört; aber das lag sicher daran, daß Chris und Marek Helme trugen, die die Übertragung blockierten. Aber die Helme hatten sie inzwischen doch bestimmt abgenommen?
Dann endlich entdeckte sie die beiden, ein Stückchen hügelabwärts saßen sie an einem mäandernden Bach.
Sie ging den Hügel hinunter. Ihre Perücke war heiß und kratzig in der Sonne. Vielleicht konnte sie sie abnehmen und ihre Haare einfach unter eine Kappe stecken. Oder vielleicht sollte sie die Haare noch ein bißchen kürzer schneiden, dann würde sie auch ohne Kappe als junger Mann durchgehen.
Könnte interessant sein, dachte sie, für eine Weile ein Mann zu sein. Gerade überlegte sie, wo sie eine Schere herbekam, als sie die Soldaten sah, die sich Marek und Chris näherten. Sie ging langsamer. Zwar hörte sie noch nichts in ihrem Ohrstöpsel, aber sie war so nahe dran, daß sie eigentlich etwas hören mußte.
War ihr Gerät ausgeschaltet? Das konnte nicht sein. Sie tippte sich ans Ohr.
Sofort hörte sie Chris sagen: »Wir haben ihn entehrt?«, und dann etwas, das sie nicht verstand. Die Soldaten schubsten Chris in Richtung
Burg. Marek ging neben ihm.
Kate zögerte kurz und folgte ihnen dann.
Castelgard war verlassen, die Läden und Werkstätten geschlossen, und in den leeren Straßen hallten die Schritte. Alle waren beim Turnier, was es Kate viel schwieriger machte, Marek und Chris und den Soldaten zu folgen. Sie mußte weit zurückbleiben und immer warten, bis sie in die nächste Straße einbogen, dann hastete sie ihnen fast im Laufschritt nach, bis sie sie wieder sah und sich erneut hinter einer Ecke verstecken mußte.
Sie wußte, daß ihr Verhalten verdächtig wirkte. Aber es war niemand da, der sie sah. Hoch oben in einem Fenster saß eine alte Frau mit geschlossenen Augen in der Sonne. Aber sie schaute nie nach unten. Vielleicht schlief sie sogar.
Auch die Wiese vor der Burg war verlassen. Die Ritter auf ihren stolzierenden Pferden, die Übungsgefechte, die flatternden Banner, alles war verschwunden. Die Soldaten überquerten die Zugbrücke. Als sie ihnen folgte, hörte sie einen Aufschrei der Menge auf dem Turnierplatz außerhalb der Mauern. Die Wachen drehten sich um und riefen den Soldaten auf der Mauerkrone etwas zu; anscheinend fragten sie, was da unten los war. Die Soldaten hatten den Turnierplatz im Blick, sie riefen etwas herunter. All dies war begleitet von Flüchen, offensichtlich waren Wetten abgeschlossen worden. In dem Durcheinander konnte sie unbemerkt durchs Tor schlüpfen. Sie stand in dem kleinen äußeren Burghof. Pferde waren an einem Pfosten angebunden, aber unbewacht. Im Außenhof waren keine Soldaten zu sehen, alle standen oben auf der Mauerkrone und schauten dem Turnier zu.
Marek und Chris waren nirgends zu entdecken. Da Kate nicht wußte, was sie sonst tun sollte, ging sie zur Tür, die in den Festsaal führte. Auf einer Wendeltreppe links davon hörte sie Schritte. Sie stieg die Treppe hoch, immer im Kreis, aber die Schritte wurden schwächer. Anscheinend waren sie nach unten gegangen, nicht nach oben.
Sie kehrte sofort um. In engen Windungen führte die Treppe nach unten und endete in einem niedrigen, feuchten und modrigen Steinkorridor mit Zellen auf beiden Seiten. Die Türen waren offen, die Zellen alle leer. Irgendwo vor ihr, hinter einer Biegung des Gangs, hallten Stimmen, Metall klirrte.
Sie bewegte sich vorsichtig weiter. Mit Hilfe ihrer Erinnerung an die
Ruine, die sie vor wenigen Wochen so sorgfältig erforscht hatte,
versuchte sie, im Geiste diesen Burgteil zu rekonstruieren. Aber an diesen Gang konnte sie sich nicht erinnern. Vielleicht war er schon