Vor ihrer Tür wanderte ein Schatten über den Boden. Das bedeutete,
daß sie jetzt auf beiden Seiten der Zellentür standen.
Was konnte sie tun? Sie wußte nur, daß sie sich auf keinen Fall gefangennehmen lassen durfte. Sie war eine Frau, sie hatte hier nichts zu suchen; sie würden sie vergewaltigen und töten.
Aber, dachte sie, sie wissen nicht, daß ich eine Frau bin. Noch nicht.
Vor der Tür war Stille, dann ein Schlurfen. Was würden sie als nächstes tun? Wahrscheinlich einen Mann in die Zelle schicken,
während die anderen draußen warteten. Und unterdessen würden die anderen sich bereit machen, würden ihre Schwerter ziehen und sie zum
Zuschlagen heben -
Länger konnte sie nicht mehr warten. Sie duckte sich und rannte los. Als der erste Soldat durch die Tür kam, rammte sie ihn, traf ihn seitlich auf Kniehöhe, und er fiel mit einem Aufschrei der Überraschung und des Schmerzes nach hinten. Die anderen Wachen fluchten, aber sie war bereits durch die Tür, hinter ihr klirrte fun-kensprühend ein Schwert auf den Boden, und sie rannte den Gang hoch. »Eine Frau! Eine Frau!« Sie liefen ihr nach.
Nun war sie auf der Wendeltreppe und lief nach oben. Hinter ihr schepperten Rüstungen, als die Männer ihr im engen Treppenhaus nachsetzten. Aber dann war sie im Erdgeschoß und tat, ohne nachzudenken, das Naheliegende: Sie lief direkt in den Festsaal. Er war verlassen, die Tische waren für ein Festmahl gedeckt, das Essen aber noch nicht aufgetragen. Sie lief an den Tischen vorbei und suchte nach einem Versteck. Hinter den Wandbehängen? Nein, die hingen zu dicht an der Wand. Unter den Tischen? Nein, dort würden sie zuerst nachsehen. Wo? Wo? Plötzlich sah sie den riesigen Kamin, das Feuer loderte immer noch hoch. Gab es nicht einen Geheimgang, der aus dem Saal hinausführte? War der hier oder war der in La Roque? Sie wußte es nicht mehr.
Sie sah sich selbst in Khaki-Shorts, Polohemd und Nike-Turn-schuhen, wie sie träge durch die Ruinen schlenderte und sich Notizen machte. Ihre einzige Sorge - falls sie damals überhaupt eine gehabt hatte — war es gewesen, ihre Kollegen zufriedenzustellen. Sie hätte besser aufpassen sollen.
Die Männer kamen näher. Es blieb keine Zeit mehr. Sie rannte zu dem fast drei Meter hohen Kamin und schlüpfte hinter den großen, halbrunden vergoldeten Schirm. Das Feuer war glühend heiß, Hitzewellen brandeten gegen ihren Körper. Sie hörte die Männer in den Saal kommen, schreiend und suchend liefen sie umher. Sie drückte sich hinter den Schirm, hielt den Atem an und wartete. Tritte und Stöße, das Scheppern von Geschirr. Die Stimmen der Männer konnte Kate nicht verstehen, sie verschmolzen mit dem Prasseln der Flammen hinter ihr. Ein metallisches Klappern war zu hören, als irgend etwas umfiel, es klang wie ein Fackelständer, etwas Großes. Sie wartete.
Ein Mann bellte eine Frage, aber sie hörte keine Antwort. Ein anderer rief eine zweite Frage, und diesmal hörte sie eine leise Ant-wort. Es klang nicht wie ein Mann. Mit wem sprachen sie? Etwa eine Frau? Kate horchte: Ja, es war eine Frauenstimme. Sie war sich ganz sicher.
Noch ein Wortwechsel, und dann das Klirren von Rüstungen, als die
Männer aus dem Saal liefen. Kate spähte hinter dem vergoldeten
Schirm hervor und sah sie durch die Tür verschwinden.
Sie wartete noch einen Augenblick und kam hinter dem Schirm hervor.
Im Saal stand ein junges Mädchen von zehn oder elf Jahren. Sie hatte ein weißes Tuch um den Kopf gewickelt, so daß nur ihr Gesicht zu sehen war. Sie trug ein locker fallendes, rosafarbenes Kleid, das fast bis zum Boden reichte. Im Arm trug sie einen goldenen Krug, aus dem sie Wasser in die Kelche auf dem Tisch goß.
Das Mädchen begegnete ihrem Blick und starrte sie nur an.
Kate befürchtete, daß sie aufschreien würde, aber sie tat es nicht. Sie sah sie nur einen Augenblick lang neugierig an und sagte dann: »Sie sind nach oben gelaufen.«
Kate drehte sich um und rannte davon.
Durch die hohen Fenster drangen das Schmettern der Trompeten und das Geschrei der Turnierzuschauer in die Zelle zu Marek und Chris. Der Wachsoldat machte ein unglückliches Gesicht, beschimpfte Marek und den Professor und kehrte dann zu seinem Hocker zurück. Der Professor fragte leise: »Hast du noch einen Marker?« »Ja«, sagte Marek. »Hast du deinen noch?«
»Nein, ich habe ihn verloren. Ungefähr drei Minuten, nachdem ich hier ankam.«
Der Professor berichtete, er sei in der bewaldeten Ebene in der Nähe des Flusses und des Klosters gelandet. ITC hatte ihm versichert, daß dies ein menschenleerer Fleck sei, aber ideal gelegen. Ohne sich weit von der Maschine zu entfernen, könne er alle wichtigen Orte seiner Ausgrabung sehen.
Was dann passiert war, war reines Pech: Der Professor war genau in dem Augenblick gelandet, als eine Gruppe Holzfäller mit geschulterten Äxten zur Arbeit in den Wald ging.
»Sie sahen die Lichtblitze, und dann sahen sie mich und fielen betend auf die Knie. Erst glaubten sie, sie hätten ein Wunder gesehen. Dann überlegten sie es sich anders, und die Äxte kamen von den Schultern«, sagte der Professor. »Ich dachte, sie würden mich töten, aber zum Glück kann ich Provenzalisch. Ich überzeugte sie, mich zum Kloster zu bringen und die Mönche entscheiden zu lassen, was ich bin.« Die Mönche nahmen ihn den Holzfällern ab, zogen ihn aus und untersuchten seinen Körper nach Stigmata. »Sie suchten an ziemlich ungewöhnlichen Stellen«, sagte der Professor. »Und deshalb verlangte ich, den Abt zu sehen. Der Abt wollte wissen, wo sich der Geheimgang in La Roque befindet. Ich glaube, er hat ihn Arnaut versprochen. Wie auch immer, ich vermutete, daß er in den Dokumenten des Klosters zu finden sein müsse.« Der Professor grinste. »Ich erklärte mich bereit, seine Pergamente für ihn durchzugehen.« »Ja?«
»Und ich glaube, ich habe ihn gefunden.« »Den Geheimgang?«
»Ich glaube schon. Er folgt einem unterirdischen Fluß, das heißt, er muß ziemlich lang sein. Er fängt an einem Ort an, der die grüne Kapelle heißt. Und es gibt einen Schlüssel zum Aufspüren des Eingangs.« »Einen Schlüssel?«
Die Wache knurrte etwas, und Marek hielt einen Augenblick inne. Chris stand auf und wischte sich feuchtes Stroh von seinen Beinlingen. Er sagte: »Wir müssen hier raus. Wo ist Kate?«
Marek schüttelte den Kopf. Kate war noch frei, außer die Schreie der Wachen, die er im Gang gehört hatte, bedeuteten, daß man sie gefangen hatte. Aber das glaubte er nicht. Wenn er es also schaffte, mit ihr Kontakt aufzunehmen, konnte sie ihnen vielleicht helfen, hier rauszukommen.
Das bedeutete, daß sie irgendwie die Wache überwältigen mußten. Das Problem war, daß es von der Biegung im Gang mindestens zwanzig Meter bis zu dem Hocker waren, auf dem die Wache saß. Es gab also keine Möglichkeit, ihn zu überraschen. Aber wenn Kate in Reichweite ihrer Ohrstöpsel war, dann könnte er —
Chris hämmerte gegen die Gitterstäbe und rief: »He! Wache! Heda!«
Bevor Marek etwas sagen konnte, kam der Wachsoldat in Sicht und sah neugierig Chris an, der einen Arm durch die Stangen gestreckt hatte und ihm winkte. »He, komm her! He! Hierher.«
Die Wache kam heran, schlug gegen Chris Hand, die er noch immer durch die Stangen streckte, und fing plötzlich an zu husten. Chris hatte ihm aus seiner Dose Gas ins Gesicht gesprüht. Der Mann schwankte. Chris packte ihn am Kragen und sprühte ihm ein zweites Mal direkt ins Gesicht.
Der Mann verdrehte die Augen und fiel dann um wie ein Stein. Da Chris ihn noch immer am Kragen gepackt hatte, knallte sein Arm gegen eine Querstange. Er schrie vor Schmerz auf und ließ den Mann los, der nach hinten auf den Steinboden kippte und bäuchlings liegenblieb. Deutlich außer Reichweite. »Toll gemacht«, sagte Marek. »Und jetzt?«
»Du könntest mir ja helfen, weißt du«, erwiderte Chris. »Sei nicht so negativ.« Er kniete sich hin, streckte den Arm bis zur Achsel durch die Stange und bewegte tastend die Hand. Mit ausgestreckten Fingern konnte er den Fuß des Wachpostens fast erreichen. Fast, aber nicht ganz. Fünfzehn Zentimeter bis zur Sohle seines Schuhs. Chris streckte sich ächzend. »Wenn wir irgendwas hätten — einen Stecken oder einen Haken —, etwas, mit dem wir ihn heranziehen ...« »Das würde nichts bringen«, sagte der Professor aus der anderen Zelle. »Warum nicht?«