»Ihr wollt, daß ich nach La Roque gehe, weil Ihr wißt, daß diese Burg eine Schwäche hat. Ihr seid eine Kreatur Arnauts, und Ihr bereitet ihm den Weg für seinen Angriff.«
»Mylord«, sagte Johnston, »wenn La Roque so minderwertig ist, wie Ihr sagt, warum habt Ihr dann Euren Schatz dort versteckt?« Oliver schnaubte mißmutig. »Ihr seid geschickt mit Worten.« »Mylord, Eure eigenen Taten sagen Euch, welche Burg die bessere ist.« »Nun gut. Aber Magister, wenn ich nach La Roque gehe, geht Ihr mit mir. Und wenn ein anderer den geheimen Eingang findet, bevor Ihr ihn mir verraten habt, werde ich selbst dafür sorgen, daß Ihr sterbt auf eine Art, die Edwards Ende« — er lachte über seinen Witz - »als Freundlichkeit erscheinen läßt.« »Ich verstehe, was Ihr meint«, sagte Johnston. »Ihr versteht? Dann nehmt es Euch zu Herzen.« Chris Hughes blickte zum Fenster hinaus.
Zwanzig Meter unter ihm lag der Burghof im Schatten. Männer und Frauen in Festkleidung strömten zu den hell erleuchteten Fenstern des Festsaals. Schwach war Musik zu hören. Der festliche Anblick machte ihn noch niedergeschlagener, er kam sich noch einsamer und verlassener vor. Sie sollten alle drei umgebracht werden -und es gab nichts, was sie dagegen tun konnten.
Ihr Gefängnis war eine kleine Kammer hoch oben im Hauptturm der Burg, mit Blick auf die Burgmauern und die Stadt dahinter. Es war das Zimmer einer Frau, mit einem Spinnrad und einem Altar auf der einen Seite, oberflächlichen Zeichen der Fröm-migkeit und Demut, die jedoch förmlich erdrückt wurden von dem riesigen Bett mit roten Samtbezügen und Pelzbesatz in der Mitte des Zimmers. Die Tür bestand aus massiver Eiche und besaß ein neues Schloß. Sir Guy hatte die Tür eigenhändig verschlossen, nachdem er eine Wache im Zimmer, auf einem Hocker neben der Tür, und zwei draußen postiert hatte. Diesmal gingen sie kein Risiko ein.
Marek saß auf dem Bett und starrte gedankenverloren ins Leere. Vielleicht lauschte er aber auch, er hatte sich eine Hand ans Ohr gelegt. Kate ging unterdessen ruhelos von einem Fenster zum anderen und verglich die Ausblicke. Am hintersten Fenster beugte sie sich hinaus, schaute nach unten, kehrte dann zum Fenster zurück, an dem Chris stand, und beugte sich auch hier hinaus.
»Der Ausblick hier ist auch nicht anders«, sagte Chris. Ihre Ruhelosigkeit irritierte ihn.
Dann sah er, daß sie mit der Hand die Außenmauer neben dem Fenster abtastete und die Beschaffenheit von Steinen und Mörtel prüfte. Er sah sie fragend an.
»Vielleicht«, sagte sie mit einem Nicken. »Vielleicht.«
Chris streckte nun ebenfalls die Hand hinaus und tastete die Mauer ab.
Sie war gerundet, fast glatt und fiel senkrecht zum Burghof hin ab.
»Soll das ein Witz sein?«
»Nein«, sagte sie, »absolut nicht.«
Er schaute noch einmal hinaus. Im Hof waren neben den Höflingen noch viele andere zu sehen. Einige Burschen scherzten und lachten, während sie Rüstungen polierten und die Pferde der Ritter versorgten. Rechts patroullierten Soldaten auf der Mauerkrone. Es konnte leicht passieren, daß einer sich umdrehte und hochschaute, falls ihre Bewegungen ihm ins Auge fielen. »Man wird dich sehen.«
»An diesem Fenster, ja. Am anderen nicht. Unser einziges Problem ist der da.« Sie nickte in Richtung der Wache neben der Tür. »Könnt ihr mir nicht irgendwie helfen?«
Marek, der noch immer auf dem Bett saß, sagte: »Ich kümmere mich darum.«
»Was soll denn das?« sagte Chris sehr verärgert. Er sprach laut. »Mir traust du das wohl nicht zu, was?« »Nein, das tue ich nicht.«
»Verdammt, ich lasse mich von dir nicht länger so behandeln«, sagte Chris. Er schien wütend und auf der Suche nach einer Möglichkeit, Dampf abzulassen. Schließlich packte er den kleinen Hocker neben dem Spinnrad und stürzte damit auf Marek zu.
Die Wache sah es, rief hastig: »Non, non, non« und eilte zu Chris. Der Mann merkte überhaupt nicht, daß Marek hinter ihn trat und ihm einen metallenen Kerzenhalter über den Kopf zog. Er sackte zusammen, und Marek fing ihn auf und ließ ihn sachte zu Boden gleiten. Blut quoll aus dem Kopf des Mannes auf einen orientalischen Teppich. »Ist er tot?« fragte Chris und starrte Marek an.
»Ist doch egal«, sagte Marek. »Red einfach leise weiter, damit die draußen unsere Stimmen hören.«
Sie drehten sich um, aber Kate war bereits verschwunden.
Ist auch nichts anderes als Freeclimbing, sagte sich Kate, die zwanzig
Meter über dem Boden an der Mauer hing.
Der Wind fuhr ihr in die Kleider und zerrte an ihr. Mit den Fingerspitzen klammerte sie sich an kleinen Mörtelvorsprüngen fest. Manchmal zerbröckelte der Mörtel, und sie mußte nachgreifen. Doch ab und zu fand sie Kerben im Mörtel, die so groß waren, daß sie ihre Fingerspitzen hineinstecken konnte.
Sie hatte schon höhere Schwierigkeitsgrade gemeistert. Jedes Gebäude inYale war schwieriger, allerdings hatte sie dort Kreide für die Hände, richtige Kletterschuhe und eine Sicherheitsleine gehabt. Hier war sie ungesichert.
Sie war zum westlichen Fenster hinausgeklettert, weil es sich im Rücken der Wachen befand, weil es zur Stadt hinausging und so die Wahrscheinlichkeit geringer war, daß man sie vom Hof aus sah, und weil es von dort aus die kürzeste Entfernung zum nächsten Fenster war - dem Fenster am Ende des Gangs, der an ihrer Kammer vorbeiführte. Es ist nicht weit, sagte sie sich. Nur nichts überstürzen. Keine Eile. Eine Hand, dann ein Fuß... die nächste Hand...
Fast da, dachte sie. Fast da.
Dann berührte sie den steinernen Fenstersims und fand ihren ersten sicheren Handhalt. Sie zog sich einhändig hoch und spähte vorsichtig in den Gang. Keine Wachen. Der Gang war leer.
Kate zog sich mit beiden Händen hoch, schwang sich auf den Sims und ließ sich drinnen zu Boden gleiten. Jetzt stand sie im Gang vor der verschlossenen Tür. »Geschafft«, sagte sie leise.
Marek fragte: »Wachen?«
»Nein, aber auch kein Schlüssel.«
Sie untersuchte die Tür. Sie war dick, massiv.
»Scharniere?« fragte Marek.
»Ja. Außen.« Sie bestanden aus schwerem Schmiedeeisen. Kate wußte, was Marek von ihr wissen wollte. »Ich sehe die Stifte.« Wenn sie die Stifte aus den Scharnieren stemmen konnte, wäre die Tür leicht aufzubrechen. »Aber ich brauche einen Hammer oder was Ahnliches. Hier ist nichts, was ich benutzen kann.« »Such dir etwas«, sagte Marek leise. Sie lief den Gang hinunter.
»De Kere«, sagte Lord Oliver, als der Ritter mit der Narbe ins Zimmer kam. »Der Magister rät mir, ich soll nach La Roque umziehen.« De Kere nickte wissend. »Das hieße, viel riskieren, Sire.« »Und das Risiko, wenn ich bleibe?«
»Wenn der Rat des Magisters aufrichtig und gut und ohne finstre Absicht ist, warum verstellten sich dann seine Gehilfen, als sie das erste Mal an Euren Hof kamen? Eine solche Verstellung ist kein Zeichen von Aufrichtigkeit, Mylord. Ich rate Euch, laßt sie zuerst ihr Verhalten rechtfertigen, bevor Ihr Vertrauen setzt in diesen neuen Magister und seinen Rat.«
»So sei es«, sagte Oliver. »Bringt mir auf der Stelle die Gehilfen, und wir werden sie fragen, was Ihr wissen wollt.«
»Mylord.« De Kere verbeugte sich und verließ das Zimmer.
Kate kam aus dem Treppenhaus und mischte sich unter die Menge im Burghof. Irgendwo mußte sie den Werkzeugkasten eines Schreiners auftreiben, den Hammer eines Schmieds oder vielleicht einige der Werkzeuge, die zum Beschlagen von Pferden benutzt wurden. Links von ihr liefen einige Burschen mit Pferden, und sie folgte ihnen. In dem aufgeregten Getümmel achtete niemand auf sie. Mühelos schaffte sie es bis zur östlichen Mauer und überlegte gerade, wie sie die Burschen ablenken konnte, als sie direkt vor sich einen Ritter sah, der bewegungslos dastand und sie anstarrte. Robert de Kere.
Ihre Blicke trafen sich kurz, dann drehte sie sich um und rannte los. Hinter sich hörte sie de Kere nach Hilfe rufen und von ringsumher die Antwortrufe von Soldaten. Sie zwängte sich durch die Menge, die plötzlich ein Hindernis darstellte, Hände, die nach ihr griffen, an ihren Kleidern zerrten. Es war wie ein Alptraum. Um der Menge zu entkommen, lief sie durch die nächstliegende Tür und knallte sie hinter sich zu.