Sie fand sich in der Küche wieder.
Der Raum war entsetzlich heiß und noch überfüllter als der Hof. Riesige eiserne Kessel simmerten über der gigantischen Feuerstelle. Ein Dutzend Kapaune drehten sich auf Spießen, die Kurbel wurde von einem Jungen gedreht. Sie blieb stehen, weil sie nicht so recht wußte, was sie tun sollte, und in diesem Augenblick kam de Kere durch die Tür, fauchte »Du!« und schwang sein Schwert.
Sie duckte sich und krabbelte zwischen den Tischen hindurch, auf denen Speisen vorbereitet wurden. Das Schwert sauste auf einen Tisch, Geschirr hüpfte klappernd. Die Köche fingen an zu schreien. Sie sah ein riesiges Modell der Burg aus einer Art Kuchenteig und stürzte darauf zu. De Kere war direkt hinter ihr.
Die Köche riefen: »Non, Sir Robert, non!« in einem Chor, der aus jeder Ecke der Küche kam, und einige Männer waren so bestürzt, daß sie sich ihm in den Weg stellten.
De Kere holte wieder aus. Kate duckte sich, und das Schwert schlug der Burg die Zinnen ab. Weißer Puderzucker staubte hoch. Die Köche kreischten entsetzt auf und fielen von allen Seiten über de Kere her. Das sei Lord Olivers Lieblingsstück, schrien sie, er habe es gutgeheißen und Sir Robert dürfe keinen weiteren Schaden an-richten. Robert wälzte sich auf dem Boden, fluchte und versuchte, sie abzuschütteln.
In dem Durcheinander lief sie wieder zur Tür hinaus ins Nachmittagslicht.
Rechts sah sie die geschwungene Mauer der Kapelle, die eben repariert wurde. Eine Leiter lehnte an der Wand, und oben am Dach, wo Ziegel ersetzt werden mußten, war ein provisorisches Gerüst zu sehen. Kate wollte weg von den vielen Menschen. Sie wußte, daß es auf der anderen Seite der Kapelle einen schmalen Durchgang zwischen der Kapelle und der Außenwand des Burgturms gab. Wenn sie dorthin gelangte, wäre sie wenigstens weg von der Menge. Als sie auf den Durchgang zulief, hörte sie hinter sich de Kere, der die Küche ebenfalls wieder verlassen hatte, einigen Soldaten etwas zurufen. Sie lief schnell, um ein wenig Abstand zu gewinnen. Kaum war sie um die Ecke der Kapelle gebogen und drehte sich um, sah sie, daß Soldaten in der anderen Richtung um die Kapelle herumliefen; sie wollten ihr offenbar am Ende des Durchgangs den Weg abschneiden. Befehle bellend kam Sir Robert um die Ecke — und blieb abrupt stehen. Seine Soldaten ebenfalls, und alle murmelten verwirrt. Sie starrten in den nur gut einen Meter breiten Durchgang zwischen Kapelle und Burg. Der Durchgang war leer. Am anderen Ende tauchten Soldaten auf und starrten sie ebenfalls an. Die Frau war verschwunden.
Kate hing in drei Meter Höhe an der Kapellenwand, halb verborgen von der verzierten Einfassung des Kapellenfensters und dicken Efeuranken. Dennoch wäre sie zu sehen gewesen, wenn jemand hochgeschaut hätte. Aber es war dunkel im Durchgang, und keiner hob den Kopf. Sie hörte de Kere wütend schreien: »Geht zu den anderen Gehilfen und bringt sie um, aber sofort!«
Die Soldaten zögerten. »Aber Sir Robert, sie sind die Gehilfen des
Magisters von Lord Oliver —«
»Und Lord Oliver selbst befiehlt es. Bringt sie alle um!«
Die Soldaten rannten davon und verschwanden in der Burg.
De Kere fluchte. Er redete mit einem Soldaten, aber sie flüster-ten. In Kates Ohrstöpsel rauschte es, und sie konnte nichts verstehen. Im Grunde genommen war sie sowieso überrascht, daß sie so viel hatte verstehen können.
Wie kam das? Eigentlich war sie zu weit weg, um de Kere so deutlich zu hören. Doch seine Stimme war klar, fast wie verstärkt. Vielleicht die Akustik im Durchgang...
Als sie nach unten schaute, sah sie, daß einige Soldaten zurückgeblieben waren. Sie konnte nicht wieder nach unten klettern.
Also beschieß sie, aufs Dach zu steigen, bis alles etwas ruhiger geworden war. Das Dach der Kapelle lag noch im Sonnenlicht: ein schlichter, ziegelgedeckter Spitzgiebel mit kleinen Lücken, wo
Reparaturen durchgeführt wurden. Die Dachneigung war ziemlich steil.
Kate kauerte sich auf die Traufe und sagte leise: »Andre.«
Ein Knistern. Sie meinte, Mareks Stimme zu hören, aber die
Übertragung war ziemlich schlecht.
»Andre, sie kommen, um euch zu töten.«
Keine Antwort, nur statisches Rauschen.
»Andre?«
Keine Antwort.
Vielleicht störten all die Mauern um sie herum die Übertragung, und sie beschloß, es auf der Dachspitze zu versuchen. Den Lücken ausweichend, kletterte sie die steile Schräge hoch. Unter jeder Reparaturstelle hatte der Maurer eine kleine Plattform errichtet, mit einem Mörteltrog und einem kleinen Stapel Ziegeln. Das Zwitschern von Vögeln ließ Kate innehalten. Sie sah, daß bei diesen Reparaturstellen tatsächlich Löcher im Dach waren, und — Ein Kratzen ließ sie hochschauen. Sie sah einen Soldaten über den Dachfirst kommen. Er hielt inne und schaute zu ihr herunter. Dann ein zweiter Soldat.
Deshalb hatte de Kere also geflüstert: Er hatte sie doch an der Mauer entdeckt und Soldaten auf der anderen Seite die Leiter hochgeschickt. Im Durchgang waren ebenfalls Soldaten. Sie starrten zu ihr hoch. Jetzt schwang der erste Soldat das Bein über den First und kam auf sie zu.
Nun blieb ihr nur noch eins übrig. Das Loch im Dach war einen guten halben Meter im Quadrat. Sie sah den Dachstuhl und etwa drei Meter darunter das Steingewölbe der Kapellendecke. Eine Art hölzerner Laufsteg lief über die Gewölbebögen. Kate kroch durch das Loch und ließ sich auf die Gewölbedecke fallen. Der säuerliche Gestank von Staub und Vogelkot stieg ihr in die Nase. Überall waren Nester, entlang der flachen Stege, in allen Ecken und Trägerverbindungen. Sie duckte sich, als ein paar Spatzen zwitschernd an ihr vorbeiflogen. Und plötzlich war sie umringt von einem Wirbelwind aus lärmenden Vögeln und fliegenden Federn. Es waren Hunderte in diesem Dachgestühl, wie sie jetzt erkannte, und sie hatte sie aufgestört. Einige Sekunden lang konnte sie nichts tun als die Arme vors Gesicht schlagen und still dastehen.
Als sie wieder hochsah, flatterten nur noch ein paar Vögel umher. Und die zwei Soldaten kamen durch Löcher im Dach geklettert. Schnell ging sie auf dem Laufsteg zu einer Tür an der Stirnseite, die wahrscheinlich in die Kirche führte. Doch kurz darauf öffnete sich diese Tür und ein dritter Soldat erschien. Drei gegen eine.
Auf dem Steg, der über die Wölbungen der Kuppeln führte, wich sie zurück. Die anderen Soldaten kamen auf sie zu. Sie hatten ihre Dolche gezogen. Und Kate machte sich keine Illusionen, was sie vorhatten. Sie wich weiter zurück.
Ihr fiel ein, wie sie unter dieser Decke gehangen hatte und die vielen Risse und die Reparaturen der Jahrhunderte untersucht hatte. Jetzt stand sie auf ebendieser Struktur. Der Steg deutete darauf hin, daß die gemauerten Bögen selbst schwach waren. Wie schwach? Würden sie ihr Gewicht tragen? Die Männer kamen immer näher. Vorsichtig trat sie auf eine der Kuppeln und prüfte ihre Tragfähigkeit. Dann stellte sie ihr ganzes Gewicht darauf. Die Kuppel hielt.
Die Soldaten kamen noch immer näher, aber sie bewegten sich langsam. Die Vögel wurden plötzlich wieder aktiv, kreischend flogen sie auf wie eine Wolke. Die Soldaten bedeckten ihre Gesichter. Spatzen flatterten so nahe an Kate vorbei, daß ihre Flügel ihr Gesicht streiften. Sie wich weiter zurück, ihre Füße knirschten auf der dicken, vertrockneten Kotschicht.
Sie stand jetzt auf einer Reihe von Kuppeln und Vertiefungen, mit dickeren Steinrippen, wo die Bögen sich in der Mitte trafen. Langsam bewegte sie sich auf die Rippen zu, weil sie wußte, daß diese tragfähiger waren. Auf ihnen entlangbalancierend, gelangte sie zum entfernten Ende der Kapelle, wo sie eine kleine Tür sah. Die Tür führte wahrscheinlich ins Kapelleninnere, vermutlich kam sie hinter dem Altar heraus.