»Wir konnten nachweisen, daß das Objekt hinausging und wieder zurückkehrte. Also schickten wir komplexere Dinge. Bald schafften wir es, eine Kamera zu schicken und mit einem Foto zurückzubekommen.« »Ja?«
»Es war ein Bild der Wüste. Von genau diesem Gelände. Aber bevor hier irgendwelche Gebäude standen.«
Stern nickte. »Konnten Sie das Bild datieren?«
»Nicht gleich«, sagte Gordon. »Wir haben immer und immer wieder Kameras losgeschickt, bekamen aber nichts anderes als Bilder der Wüste. Manchmal im Regen, manchmal im Schnee, auch tagsüber, auch nachts, aber immer Wüste. Sie kamen eindeutig aus verschiedenen Zeiten — aber was für Zeiten? Die Datierung der Bilder war ziemlich schwierig. Ich meine, wie würden Sie eine Kamera einsetzen, um die Abbildung einer solchen Landschaft zu datieren?« Stern runzelte die Stirn. Er erkannte das Problem. Die meisten alten Fotos ließen sich anhand menschlicher Artefakte datieren -ein Gebäude, ein Auto, Kleidung oder Ruinen. Aber eine unbe-wohnte Wüste in New Mexico änderte sich in Tausenden, vielleicht sogar Hunderttausenden von Jahren kaum.
Gordon lächelte. »Wir legten die Kamera auf den Rücken und benutzten ein Fischaugenobjektiv. Und fotografierten den Himmel bei Nacht.« »Aha.«
»Natürlich funktioniert es nicht immer - es mußte Nacht und der
Himmel wolkenlos sein -, aber wenn man genug Planeten auf dem Bild hat, kann man den Himmel ziemlich genau datieren. Bis aufs Jahr, den
Tag und die Stunde genau. Und so fingen wir an, unsere
Navigationstechnologie zu entwickeln.«
»Das ganze Projekt änderte also die Richtung...«
»Ja. Wir wußten natürlich, was wir hatten. Wir machten keine
Objektübertragungen mehr - es hatte keinen Sinn, das länger zu versuchen. Wir transportierten zwischen Universen.«
»Und wann haben Sie angefangen, Leute zu schicken?«
»Noch eine ganze Weile nicht.«
Gordon führte ihn um eine Wand aus elektronischen Geräten herum in einen anderen Teil des Labors. Und dort sah Stern riesige, von der Decke hängende, wassergefüllte Plastiktanks, die ein bißchen wie auf den Kopf gestellte Wasserbetten aussahen. In der Mitte stand ein normal großer Käfig, zwar noch nicht ganz so ausgereift wie die im Transitraum, aber eindeutig dieselbe Technologie. »Das war unsere erste echte Maschine«, sagte Gordon stolz. »Moment mal«, sagte Stern. »Funktioniert das Ding?« »Ja, natürlich.«
»Ich meine, funktioniert es jetzt?«
»Es wurde zwar eine ganze Weile nicht mehr benutzt«, sagte Gordon. »Aber ich kann mir gut vorstellen, daß es funktioniert. Warum?« »Wenn ich zurückgehen und ihnen helfen wollte«, sagte Stern, »dann könnte ich - es in dieser Maschine tun? Habe ich recht?« »Ja.« Gordon nickte langsam. »Sie könnten in dieser Maschine zurückgehen, aber -«
»Hören Sie, ich glaube, die anderen sind in ihrer Zeit in ernsten Schwierigkeiten - oder noch Schlimmeres.« »Wahrscheinlich. Ja.«
»Und Sie sagen mir, daß wir eine Maschine haben, die funktioniert«, sagte Stern, »und zwar jetzt im Augenblick.«
Gordon seufzte. »Ich fürchte, es ist ein bißchen komplizierter als das, David.«
Kate fiel wie in Zeitlupe, als die Deckensteine unter ihr nachgaben. Im letzten Moment schlossen sich ihre Finger um die schartige Mörtelkante, mit der Übung vieler Jahre krallte sie sich daran fest, und der Mörtel hielt. An einer Hand hängend, sah sie zu, wie die Steine in einer Staubwolke auf den Boden der Kapelle krachten. Was mit den Soldaten passiert war, konnte sie nicht sehen.
Sie hob die andere Hand und bekam die Steinkante zu fassen. Die Steine konnten jeden Augenblick losbrechen, das wußte sie. Die ganze Decke bröckelte. Die größte Tragfähigkeit besaß die verstärkte Rippe, wo die Bögen zusammenstießen. Dort oder an der Seitenwand der Kapelle, die aus vertikal geschichteten Steinen bestand. Sie wollte versuchen, zur Seitenwand zu kommen. Der Stein löste sich, und sie hing wieder allein an der linken Hand. Sie griff mit der Rechten über die Linke, und zwar so weit es irgendwie ging, um wiederum ihr Gewicht zu verteilen.
Jetzt brach der Stein unter ihrer linken Hand los und fiel zu Boden. Erneut baumelte sie in der Luft, fand aber gleich einen anderen Handhalt. Sie war nur noch einen knappen Meter von der Seitenwand entfernt, und die Steine des Gewölbes waren — so knapp vor der Vereinigung mit der Wand - merklich dicker. Die Kante, an der sie sich festklammerte, fühlte sich stabiler an.
Unter sich hörte sie Soldaten, die schreiend in die Kapelle gelaufen kamen. Es würde nicht lange dauern, bis sie mit Pfeilen nach ihr schössen.
Sie versuchte, das linke Bein hochzuschwingen. Je mehr sie ihr Gewicht verteilen konnte, um so sicherer hing sie. Sie schaffte es, das Bein auf die Kante zu legen, und die Decke hielt. Indem sie den Oberkörper verdrehte, konnte sie sich ihrer ganzen Länge nach auf die Kante hieven, dann zog sie ihr zweites Bein nach. Die ersten Pfeile pfiffen an ihr vorbei; andere krachten gegen Stein und wirbelten feine Staubfahnen hoch. Jetzt lag sie flach auf dem Deckengewölbe. Aber hier konnte sie nicht bleiben. Sie rollte sich von der Kante weg, auf die Rippe zu. Und im Rollen spürte sie, wie weitere Steine wegbrachen.
Die Soldaten hörten auf zu schreien. Vielleicht hatten die fallenden Steine einen von ihnen getroffen, dachte sie. Aber nein: Offenbar liefen sie hastig aus der Kirche. Draußen hörte sie Männer rufen und Pferde wiehern. Was war da los?
Im Turmzimmer hörte Chris das Kratzen des Schlüssels im Schloß. Die Soldaten draußen hielten inne und riefen durch die Tür — riefen der Wache im Zimmer etwas zu.
Unterdessen suchte Marek wie ein Verrückter. Er kniete auf dem Boden und schaute unter dem Bett nach. »Ich hab was!« rief er. Als er aufstand, hielt er ein Breitschwert und einen langen Dolch in den Händen. Er warf Chris den Dolch zu.
Wieder riefen die Soldaten draußen die Wache im Zimmer. Marek ging zur Tür und bedeutete Chris, sich an die andere Seite zu stellen. Chris drückte sich neben der Tür flach an die Wand. Es waren viele Stimmen da draußen. Sein Herz fing an zu hämmern. Es hatte ihn schockiert, wie Marek den Wachposten getötet hatte. Sie kommen, um euch zu töten.
Immer wieder hörte er die Worte in seinem Kopf, und das alles kam ihm irgendwie unwirklich vor. Es schien ihm einfach nicht möglich, daß bewaffnete Männer vor der Tür standen, um ihn zu töten. In der Behaglichkeit der Bibliothek hatte er Berichte über vergangene Grausamkeiten gelesen, über Morde und Gemetzel. Er hatte Beschreibungen gelesen von Straßen, die glitschig waren vom Blut, von Soldaten, die von Kopf bis Fuß rot getränkt waren, von
Frauen und Kindern, die trotz ihres inständigen Flehens bestialisch abgeschlachtet wurden. Aber irgendwie hatte Chris immer angenommen, diese Geschichten seien übertrieben und grell ausgemalt. An der Universität war es Mode gewesen, Dokumente ironisch zu interpretieren, von der Naivität des Erzählens zu reden, vom Kontext des Textes, von der Privilegierung der Macht... Ein theoretisches Posieren, das aus der Geschichte ein cleveres intellektuelles Spiel machte. Chris beherrschte das Spiel sehr gut, aber beim Spielen hatte er irgendwie den Bezug zu einer unmittelbareren Wirklichkeit verloren — daß nämlich die alten Texte grausige Geschichten und gewalttätige Episoden erzählten, die allzuoft durchaus der Wahrheit entsprachen. Er hatte den Bezug dazu verloren, daß er Geschichte las. Bis jetzt, denn nun wurde es ihm mit Gewalt bewußt gemacht. Der Schlüssel drehte sich im Schloß.