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Marek fragte Kate: »Sieht es aus wie das moderne La Roque?« »Überhaupt nicht«, antwortete sie kopfschüttelnd. »Das Ding hier ist gigantisch. Die moderne Burgruine hat nur eine Außenmauer. Die da hat zwei: einen zusätzlichen Mauerring, der nicht mehr auffindbar ist.« »Soweit ich weiß«, sagte Marek, »wurde es nie mit Gewalt eingenommen.«

»Man sieht ja auch, warum«, bemerkte Chris. »Schau nur, wie es liegt.« An der Ost- und Südseite stand die Burg am Rand steiler Kalksteinhänge, die fast senkrecht über einhundertfünfzig Meter tief zur Dordogne hin abfielen. Im Westen, wo der Abhang weni-

ger steil war, wuchsen die Häuser der Stadt zum Schloß empor, aber die Straße durch die Stadt endete an einem breiten Burggraben und mehreren Zugbrücken. Im Norden fiel das Land sanft ab, aber alle Bäume auf dieser Seite waren gefällt, und auf einem solchen freien Feld ohne jede Deckung anzugreifen wäre Selbstmord für jede Armee. Marek zeigte zur Festung. »Schaut mal dort«, sagte er. Im Zwielicht sahen sie einen Trupp Soldaten, die sich auf einem unbefestigten Weg von Westen her der Burg näherten. Zwei Ritter an der Spitze hielten Fackeln, und in diesem Licht konnten sie Lord Oliver, Sir Guy und den Professor gerade noch erkennen. Der Rest von Olivers Rittern bildete in zwei Kolonnen die Nachhut. Die Gestalten waren so weit entfernt, daß sie nur an Körperform und Haltung zu erkennen waren. Aber zumindest Chris hatte keinen Zweifel, um wen es sich handelte.

Er seufzte, als er sah, daß die Männer einen Graben auf einer Zugbrücke überquerten und dann durch ein großes, von zwei halbrunden Türmen flankiertes Wachhaus einritten - ein sogenanntes Doppel-D-Tor, weil die Zwillingstürme von oben betrachtet wie Ds aussahen. Soldaten auf den Türmen beobachteten die Reiter.

Hinter dem Wachhaus kamen die Reiter in einen umschlossenen Hof. Hier waren viele lange, hölzerne Gebäude errichtet worden. »Dort liegen die Truppen in Garnison«, sagte Kate.

Die Männer ritten über diesen äußeren Hof und überquerten einen zweiten Graben auf einer zweiten Zugbrücke. Dann verschwanden sie in einem zweiten Wachhaus mit noch höheren Doppeltürmen: zehn Meter hoch und hell erleuchtet vom Schein aus Dutzenden von Schießscharten.

Erst dahinter, im innersten Burghof, stiegen sie ab. Der Professor wurde von Oliver zum Festsaal geführt, und sie verschwanden darin. Kate sagte: »Der Professor hat gesagt, wenn wir getrennt werden, sollen wir ins Kloster gehen und Bruder Marcel suchen, weil der den Schlüssel hat. Ich bin mir sicher, er meint den Schlüssel zum Geheimgang.«

Marek nickte. »Und genau das werden wir jetzt tun. Es ist bald ganz dunkel. Dann können wir los.«

Chris schaute den Hügel hinunter. In der Dämmerung erkannte er auf den Feldern kleine Soldatentrupps, die sich bis zum Flußufer verteilten. An all diesen Soldaten mußten sie sich vorbeischleichen. »Du willst heute nacht zum Kloster?« fragte er.

Marek nickte. »Wie gefährlich das jetzt auch aussehen mag«, sagte er, »morgen wird es noch schlimmer.«

Kein Mond war zu sehen. Der Himmel war schwarz und voller Sterne, hin und wieder zog eine Wolke vorüber. Marek führte sie den Hügel hinunter und an der brennenden Stadt von Castelgard vorbei in die dunkle Landschaft. Es überraschte Chris, wie erstaunlich gut er im Licht der Sterne sehen konnte, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Wahrscheinlich, weil es keine Luftverschmutzung gibt, dachte er. Er erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, daß die Leute in früheren Jahrhunderten tagsüber den Planeten Venus sehen konnten, so wie wir jetzt den Mond sehen.

Außerdem überraschte ihn die absolute Stille der Nacht. Das Lauteste, was sie hörten, war das Geräusch ihrer Füße, die sich durch Gras und Gestrüpp bewegten.

»Wir gehen zum Pfad«, flüsterte Marek. »Und dann zum Fluß hinunter.« Sie kamen nur langsam vorwärts. Marek blieb immer wieder stehen und duckte sich hinter Gestrüpp, um ein paar Minuten zu horchen. So brauchten sie fast eine Stunde, bis sie den Lehmpfad erreichten, der von der Stadt zum Fluß führte. Der Pfad war nur ein heller Streifen im dunklen Gras und dem Laubwerk zu beiden Seiten. Hier hielt Marek inne und kauerte nieder. Völlige Stille umgab sie. Chris hörte nur das schwache Säuseln des Winds. Er wollte unbedingt weitergehen. Nach einer vollen Minute des Wartens stand er auf. Doch Marek zog ihn wieder zu Boden. Er hielt sich den Finger an die Lippen.

Chris horchte. Da war mehr als nur der Wind, erkannte er. Es war das Flüstern von Männern. Er strengte seine Ohren an. Ein leises Husten, irgendwo vor ihnen. Dann noch ein Husten, etwas näher, auf ihrer Seite des Pfads.

Marek deutete nach rechts und links. Chris sah ein schwaches silbernes Glitzern im Gebüsch auf der anderen Seite des Pfads -Rüstungen im Licht der Sterne.

Und dann hörte er ganz nahe ein Rascheln.

Es war ein Hinterhalt, Soldaten, die zu beiden Seiten des Pfads auf sie lauerten.

Marek deutete zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Leise entfernten sie sich von dem Pfad. »Wohin jetzt?« flüsterte Chris.

»Wir bleiben vom Pfad weg. Gehen in östlicher Richtung zum Fluß. Da entlang.« Marek gab die Richtung vor, und sie machten sich auf den Weg.

Chris war jetzt sehr nervös und horchte auf das leiseste Geräusch. Doch ihre eigenen Schritte waren so laut, daß sie andere Geräusche übertönten. Jetzt verstand er, warum Marek so oft stehengeblieben war. Er hatte einfach ganz sichergehen wollen.

Sie liefen zweihundert Meter durch den Wald zurück und zwischen Feldern hindurch zum Fluß hinunter. Obwohl es fast stockfinster war, kam Chris sich sehr exponiert vor. Die Felder waren mit Steinmäuerchen umgrenzt, so daß sie wenigstens etwas Deckung hatten. Aber er fühlte sich dennoch unbehaglich und seufzte erleichtert auf, als sie wieder in nachtdunkles Gebüsch eintauchten. Die stille, schwarze Welt war Chris völlig fremd, und doch gewöhnte er sich schnell daran. Gefahr drohte von der kleinsten Bewegung, von Geräuschen, die fast unhörbar waren. Chris bewegte sich geduckt, den Körper angespannt, er zögerte bei jedem Schritt, bevor er mit vollem Gewicht auftrat, und schaute beständig nach links und rechts. Er kam sich vor wie ein Tier, und ihm fiel wieder ein, wie Ma-rek vor dem Angriff im Turmzimmer die Zähne gebleckt hatte, fast wie ein Affe. Er schaute zu Kate hinüber und sah, daß auch sie sich geduckt und angespannt bewegte.

Aus irgendeinem Grund dachte er plötzlich an den Seminarraum im ersten Stock des Peabody in Yale mit seinen cremefarbenen Wänden und den polierten Zierleisten aus dunklem Holz und an die Diskussionen unter den Doktoranden an dem langen Tisch: ob prozessuale Archäologie eher historisch oder eher archäologisch sei, ob formalistische Kriterien schwerer wögen als objektivistische Kriterien, ob sich hinter der derivationistischen Lehre nicht eine normative Absicht verberge.

Es war kein Wunder, daß sie stritten. Diese Themen waren reine Abstraktionen, die aus nichts als heißer Luft bestanden. Leere Debatten dieser Art konnten nie zu einem Abschluß kommen, die Fragen nie beantwortet werden. Dennoch hatte so viel Intensität, so viel Leidenschaft in diesen Debatten gelegen. Warum nur? Wem lag es wirklich am Herzen? Er konnte sich nicht mehr erinnern, warum das alles so wichtig gewesen war.

Die akademische Welt schien Welten entfernt, nicht mehr als eine graue und undeutliche Erinnerung, als er sich nun die dunkle Hügelflanke hinunter zum Fluß vorkämpfte. Doch wie verängstigt und nervös er in dieser Nacht auch sein mochte, wie bedroht sein Leben auch sein mochte, dies hier war real auf eine Art, die beruhigend, ja sogar belebend war, und — Er hörte einen Ast knacken und erstarrte. Auch Marek und Kate erstarrten.

Sie hörten Rascheln im Unterholz links von ihnen und dann ein leises Schnauben. Marek griff nach seinem Schwert.