Der kleine dunkle Umriß eines Wildschweins zockelte an ihnen vorbei. »Hätte es töten sollen«, flüsterte Marek. »Ich habe Hunger.« Sie gingen weiter, aber Chris merkte, daß nicht sie es gewesen waren, die das Schwein aufgescheucht hatten. Denn jetzt hörten sie unverkennbar das Geräusch vieler Schritte. Die raschelnd und knackend durch das Unterholz brachen. Auf sie zukamen.
Marek runzelte die Stirn.
Er konnte in der Dunkelheit genug erkennen, um hin und wieder eine metallene Rüstung aufblitzen zu sehen. Es mußten sieben oder acht Soldaten sein, die sich hastig in östlicher Richtung bewegten, sich dann im Unterholz versteckten und still lauerten. Was zum Teufel war hier nur los?
Die Soldaten hatten bereits am Lehmpfad auf sie gewartet. Dann waren sie nach Osten gezogen und lauerten jetzt wieder auf sie. Wie war das möglich?
Er sah Kate an, die hinter im kauerte, doch sie machte nur ein verängstigtes Gesicht.
Chris, der ebenfalls kauerte, tippte Marek auf die Schulter. Chris schüttelte den Kopf und deutete mit Nachdruck auf sein Ohr.
Marek nickte und horchte. Zuerst hörte er nichts als den Wind. Verwirrt sah er wieder Chris an, der sich nun mit übertriebener Geste knapp neben dem Ohr an den Kopf tippte.
Schalte deinen Ohrstöpsel an, meinte er damit.
Marek tippte sich ans Ohr.
Nach dem ersten kurzen Knistern nach dem Einschalten hörte er zunächst gar nichts. Achselzuckend schaute er Chris an, der ihm die erhobenen Handflächen entgegenstreckte: warte. Marek wartete. Erst nach einer Weile hörte er das leise, regelmäßige Atmen eines Menschen.
Er sah Kate an und hielt sich den Finger an die Lippen. Sie nickte. Er sah Chris an. Auch er nickte. Sie verstanden beide. Absolut kein Geräusch machen.
Wieder horchte Marek angestrengt. Noch immer hörte er in seinem Ohrstöpsel das leise Atmen. Aber es kam nicht von ihnen. Sondern von jemand anders.
Chris flüsterte: »Andre, das ist zu gefährlich. Wir sollten den Fluß nicht heute nacht überqueren.«
»Du hast recht«, flüsterte Marek. »Wir gehen zurück nach Castelgard und verstecken uns über Nacht vor der Stadtmauer.« »Okay. Gut.« »Dann los.«
In der Dunkelheit nickten sie einander zu und tippten sich dann ans Ohr,
um die Geräte auszuschalten.
Und dann hockten sie sich hin, um zu warten.
Kurz darauf hörten sie, wie die Soldaten aufstanden und wieder durchs Unterholz liefen. Doch diesmal den Hügel hinauf, zurück nach Castelgard.
Sie warteten noch fünf oder sechs Minuten. Dann gingen sie weiter den Hügel hinunter, weg von Castelgard.
Es war Chris, der sich schließlich alles zusammengereimt hatte. Als er in der Dunkelheit den Hügel hinunterstieg, hatte er sich mit der Hand eine Mücke vom Ohr gewischt und dabei unabsichtlich seinen Ohrstöpsel eingeschaltet, und kurz darauf hatte er deutlich jemand niesen hören.
Aber von ihnen dreien hatte keiner geniest.
Wenige Augenblicke später war ihnen das Schwein über den Weg gelaufen, und zu der Zeit hörte er bereits jemanden vor Anstrengung keuchen. Doch Kate und Marek, die in der Dunkelheit neben ihm standen, bewegten sich überhaupt nicht.
Zu diesem Zeitpunkt erkannte er, daß noch ein anderer einen Ohrstöpsel haben mußte - und als er jetzt darüber nachdachte, konnte er sich ziemlich gut vorstellen, woher der stammte. Von Gomez. Irgend jemand mußte Gomez' abgetrenntem Kopf den Stöpsel aus dem Ohr gezogen haben. Das einzige Problem mit dieser Theorie war nur — Marek stupste ihn an. Deutete nach vorne. Kate reckte den Daumen in die Höhe und grinste. Flach und leicht gekräuselt plätscherte der Fluß durch die Nacht. Die Dordogne war an dieser Stelle sehr breit, sie konnten das andere Ufer, eine Linie aus dunklen Bäumen und dichtem Unterholz, kaum erkennen. Bewegungen waren nirgendwo zu sehen. Als Chris flußaufwärts schaute, sah er gerade noch die dunklen Umrisse der Mühlenbrücke. Er wußte, daß die Mühle über Nacht geschlossen war. Müller konnten nur bei Tageslicht arbeiten, weil sogar die
Flamme einer Kerze eine Explosion des Mehlstauhs in der Luft verursachen konnte.
Marek berührte Chris am Arm und deutete zum gegenüberliegenden Ufer. Chris zuckte die Achseln, er sah nichts. Marek deutete noch einmal.
Chris kniff die Augen zusammen und konnte gerade noch vier dünne
Rauchsäulen erkennen, die in den Nachthimmel stiegen. Aber wenn der
Rauch von Feuern kam, warum sahen sie dann kein Licht?
Sie gingen am Wasser entlang flußaufwärts und kamen nach einer Weile zu einem am Ufer festgemachten Kahn. Er knirschte in der Strömung
über die Steine. Marek schaute zum anderen Ufer. Sie waren jetzt ein ganzes Stück von den Rauchsäulen entfernt.
Er zeigte auf den Kahn. Sollten sie es riskieren?
Die einzige Alternative war, das wußte Chris, durch den Fluß zu schwimmen. Aber die Nacht war kühl, und er wollte nicht naß werden.
Er deutete ebenfalls auf den Kahn und nickte.
Auch Kate nickte.
Sie stiegen ein, und Marek ruderte sie leise über die Dordogne. Kate, die neben Chris saß, mußte an ihre Unterhaltung denken, als sie vor ein paar Tagen den Fluß überquerten. Wie viele Tage war das her? Nur zwei, erkannte sie. Aber ihr kam es vor wie Wochen. Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie das andere Ufer nach Bewegungen ab. Ihr Boot war zwar nur ein dunkler Umriß auf dunklem Wasser vor einem dunklen Hügel, aber wenn jemand in ihre Richtung schaute, wären sie trotzdem sichtbar.
Doch offensichtlich tat das niemand. Das Ufer war jetzt schon sehr nahe, und dann glitt der Kahn leise zischend über das Gras am Ufer und kam mit einem leichten Knirschen zum Stehen. Sie stiegen aus und entdeckten sofort einen schmalen Lehmpfad, der am Ufer entlangführte. Marek hielt sich den Finger an die Lippen und setzte sich auf dem Pfad in Bewegung. Er ging auf den Rauch zu. Sie folgten ihm vorsichtig.
Ein paar Minuten später hatten sie die Antwort. Es waren vier Feuer, die in Abständen am Ufer brannten. Doch die Flammen waren umstellt mit kaputten Rüstungsteilen, die in einem niederen Erdwall steckten, so daß nur der Rauch zu sehen war. Aber nirgendwo waren Soldaten.
Marek flüsterte. »Ein alter Trick. Die Feuer geben die falsche Position an.«
Kate begriff nicht so recht, was mit diesem »alten Trick« erreicht werden sollte. Vielleicht sollten sie eine größere Truppenstärke, als wirklich vorhanden war, vortäuschen. Marek führte sie an den unbewachten Feuern vorbei zu einigen anderen, die etwas weiter unten am Ufer brannten. Sie gingen dicht am Wasser und hörten das Plätschern des Flusses. Als sie zum letzten Feuer kamen, drehte Marek sich plötzlich auf dem Absatz um und ließ sich zu Boden fallen. Auch Kate und Chris gingen zu Boden, und dann hörten sie Stimmen, die ein eintöniges Trinklied grölten; der Text ging etwa so: »Wenn ein Mann am Feuer schnarcht, dann war's das Bier, das Bier, wenn ein Mann im Dreck sich suhlt, dann war's das Bier, das Bier...« Es ging endlos so weiter. Beim Zuhören fühlte Kate sich an die Sauflieder ihrer Collegezeit erinnert. Und als sie den Kopf hob, sah sie wirklich ein halbes Dutzend Soldaten in Grün und Schwarz, die um mehrere Feuer saßen, tranken und laut sangen. Vielleicht hatten sie den Befehl, genug Lärm zu machen, um die vielen Feuer zu rechtfertigen. Marek bedeutete ihnen umzukehren, und als sie ein Stück gegangen waren, führte er sie nach links, vom Fluß weg. Sie verließen den Schutz des Waldstreifens, der das Ufer säumte, und huschten nun wieder über offene Felder ohne jede Deckung. Kate erkannte, daß es dieselben Felder waren, über die sie an jenem Morgen gelaufen waren. Und wirklich sah sie auf der linken Seite schwache gelbe Lichter in den oberen Fenstern des Klosters. Offensichtlich arbeiteten einige Mönche bis spät in die Nacht. Direkt vor ihnen erkannte sie die dunklen Umrisse strohgedeckter Bauernhütten.
Chris deutete zum Kloster. Warum gingen sie nicht dorthin? Marek formte mit seinen Händen ein Kissen am Ohr: Alle schlafen. Chris zuckte die Achseln: Na und?