Die Kalksteinfelsen rechts der Straße waren hoch und steil. Der einzige Weg führte also durch den Torbogen. Und neben dem Tor stand, im Gespräch mit den Soldaten am Zollhaus, Robert de Kere. Marek schüttelte den Kopf.
Ein Strom von Bauern, meistens Frauen und Kinder, einige mit ein paar Habseligkeiten auf dem Rücken, kam die Straße hoch. Sie suchten den Schutz der Festung von La Roque. De Kere sprach mit einem Posten und warf hin und wieder einen flüchtigen Blick auf die Bauern. Auch wenn er keinen sehr aufmerksamen Eindruck machte, würden sie doch nie unbeobachtet an ihm vorbeikommen.
Schließlich verschwand de Kere im Inneren der befestigten Brücke. Marek stieß die andern an, sie setzten sich auf der Straße in Bewegung und gingen langsam auf den Kontrollpunkt zu. Marek spürte, wie er zu schwitzen anfing.
Die Wachen durchsuchten die Habseligkeiten der Leute, konfiszierten alles, was wertvoll aussah, und warfen es auf einen Haufen neben der Straße.
Marek erreichte den Torbogen und ging langsam weiter. Die Soldaten musterten ihn, aber er hielt den Blick gesenkt. Er schaffte es hindurch, dann Chris und schließlich Kate.
Sie folgten der Menge den Fluß entlang, doch als die Bauern nach einer Weile in Richtung La Roque abbogen, ging Marek in die entgegengesetzte Richtung, auf das Ufer zu.
Hier war überhaupt niemand, und sie konnten, versteckt hinter Laubwerk, die Brücke ausspähen, die jetzt etwa vierhundert Meter flußabwärts lag.
Was sie sahen, war nicht sehr ermutigend.
An jedem Ende der Brücke stand ein massiver, zweistöckiger
Wachturm mit einem zinnenbewehrten Laufgang obenauf und Schießscharten an allen Seiten. Auf dem diesseitigen Wachturm sahen sie zwei Dutzend Soldaten in Kastanienbraun und Grau, die kampfbereit über die Brustwehr nach unten schauten. Die gleiche Anzahl Soldaten befand sich auf dem zweiten Turm, auf dem Sir Olivers Banner im Wind flatterte.
Zwischen den beiden Türmen bestand die Brücke aus zwei Gebäuden unterschiedlicher Größe, die durch Rampen verbunden waren. Darunter drehten sich vier Wasserräder, angetrieben von der Strömung des Flusses, der durch eine Reihe von Dämmen und Kanälen beschleunigt wurde.
»Was meinst du?« fragte Marek Chris. Diesem Bauwerk galt schließlich sein ganz spezielles Interesse. Er studierte es seit zwei Jahren. »Kommen wir da rein?«
Chris schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Überall Soldaten. Es gibt keinen Weg hinein.«
»Was ist das Gebäude auf unserer Seite?« fragte Marek und deutete auf einen zweistöckigen Holzbau.
»Das dürfte die Mehlmühle sein«, sagte Chris. »Wahrscheinlich mit den Mühlsteinen im Obergeschoß. Das Mehl rieselt über eine Rinne in Behälter im Erdgeschoß, wo man es leichter in Säcke füllen und hinaustragen kann.« »Wie viele Leute arbeiten dort?«
»Wahrscheinlich zwei oder drei. Aber im Augenblick« - er deutete auf die Soldaten — »vielleicht überhaupt niemand.« »Okay. Und das andere?«
Marek deutete auf das andere Gebäude, das mit dem ersten durch eine kurze Rampe verbunden war. Es war länger, aber niedriger. »Bin mir nicht ganz sicher«, sagte Chris. »Es könnte zur Metallbearbeitung sein, eine Breimühle zur Papierherstellung, ein Biermaischer oder vielleicht sogar eine Mühle zur Holzbearbeitung.« »Du meinst mit Sägen?«
»Ja. Zu dieser Zeit gibt es bereits wassergetriebene Sägen. Falls es das ist.«
»Du bist dir aber nicht sicher.«
»Nein, von hier aus läßt sich das nicht feststellen.«
Kate sagte: »Tut mir ja furchtbar leid, aber warum zerbrechen wir uns überhaupt darüber den Kopf? Schaut euch die Brücke doch nur an: Wir kommen da nie rein.«
»Aber wir müssen rein«, sagte Marek. »Um uns Bruder Marcels Zelle anzusehen und um den Schlüssel zu holen, der da drin ist.«
»Aber wie, Andre? Wie kommen wir da rein?«
Lange starrte Marek die Brücke schweigend an. Dann sagte er: »Wir schwimmen.«
Chris schüttelte den Kopf. »Unmöglich«, sagte er. Die Brückenpfeiler ragten senkrecht aus dem Wasser, die Steine waren grün und schlüpfrig vor Algen. »Wir können da nie hochklettern.« »Wer hat denn was von Klettern gesagt?« fragte Marek.
Chris blieb die Luft weg, als er die Kälte des Wassers spürte. Marek stieß sich bereits vom Ufer ab und ließ sich von der Strömung flußabwärts treiben. Kate war direkt hinter ihm, sie schwamm ein Stück nach rechts und versuchte, sich in der Flußmitte zu halten. Chris folgte ihnen, warf aber immer wieder nervöse Blicke zum Flußufer. Bis jetzt hatten die Soldaten sie noch nicht entdeckt. Das Rauschen des Flusses klang laut in seinen Ohren, er hörte nichts anderes. Jetzt drehte er den Kopf nach vorn, konzentrierte sich nur noch auf die immer näher kommende Brücke. Er spürte, wie sein Körper sich anspannte. Er hatte nur eine einzige Chance — wenn er die verpaßte, würde die Strömung ihn flußabwärts treiben, und es war unwahrscheinlich, daß er es zurück zur Brücke schaffte, ohne gefangengenommen zu werden. So war es also. Eine einzige Chance.
Kleine Steinmauern ragten von den Ufern in den Fluß, um die Strömung zu beschleunigen, und er spürte, daß er immer schneller wurde. Direkt vor ihm war eine gemauerte Wasserrutsche, die direkt auf die Schaufelräder zuführte. Sie befanden sich jetzt im Schatten der Brücke. Alles ging sehr schnell. Der Fluß war weiße Gischt und brausendes Tosen. Als er näher kam, hörte er das Knarzen der hölzernen Räder. Marek erreichte das erste Rad; er packte eine Speiche, schwang sich herum, stellte sich auf eine Schaufel und ließ sich vom Rad in die Höhe tragen, bis er nicht mehr zu sehen war. Bei ihm sah es ganz einfach aus.
Jetzt hatte Kate das zweite Rad in der Mitte der Brücke erreicht. Behende griff auch sie nach einer aufsteigenden Speiche, doch sie drohte ihr wieder zu entgleiten, und nur mit aller Kraft konnte sie sich daran festklammern. Schließlich schwang auch sie sich auf eine Schaufel und kauerte sich hin.
Chris glitt die Wasserrutsche hinunter und grunzte, als sein Körper über die Steine holperte. Das Wasser um ihn herum kochte wie in einer Stromschnelle, die Strömung trug ihn schnell auf das sich drehende Rad zu.
Jetzt war er an der Reihe. Das Rad war sehr nahe.
Chris griff nach einer aus dem Wasser auftauchenden Speiche, schloß die Hand darum - sie war kalt und schlüpfrig - Splitter stachen ihn in die Finger — er verlor den Halt — griff mit der ändern Hand zu -verzweifelt — die Speiche stieg in die Luft — er konnte sich nicht festhalten — ließ los, fiel ins Wasser zurück - griff nach der nächsten Speiche — verfehlte sie — verfehlte sie — und wurde dann unbarmherzig weitergetrieben, wieder ins Sonnenlicht hinein, flußabwärts.
Er hatte seine einzige Chance verpaßt. Verdammt!
Die Strömung trieb ihn weiter. Weg von der Brücke, weg von den anderen.
Er war auf sich allein gestellt.
Kate schob ein Knie auf die Schaufel des Wasserrads und spürte, wie sie aus dem Wasser gehoben wurde. Dann zog sie das zweite Knie nach, kauerte sich hin und ließ sich so in die Höhe tragen. Als sie nach unten schaute, sah sie gerade noch, wie Chris flußabwärts getrieben wurde, sein Kopf tanzte auf den Wellen im Sonnenlicht. Dann trug das Rad sie immer höher und in die Mühle hinein.
Sie sprang von der Schaufel ab und kauerte sich in der Dunkelheit auf den Boden. Die Holzdielen unter ihren Füßen gaben nach, sie roch feuchte Fäulnis. Sie befand sich in einer kleinen Kammer, das Wasserrad in ihrem Rücken und rechts von sich ein rotierendes Werk aus hölzernen Zahnrädern, die mit lautem Knarzen ineinandergriffen. Das Räderwerk war mit einem vertikalen Schaft verzahnt, der dadurch in eine Drehbewegung versetzt wurde. Der Schaft verschwand in der Decke. Wasser spritzte auf sie, während sie bewegungslos dastand und horchte. Aber sie hörte nichts außer dem Geräusch des Wassers und dem Knarzen von Holz.