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»Nur in Märchen«, sagte er. »In der wirklichen Welt bleibst du nicht stehen, um einem armen Mann im Wald zu helfen, weil er und seine Freunde dir sonst das Pferd stehlen und dich umbringen. Deshalb tut es niemand.«

Chris grinste immer noch, er wirkte so selbstsicher und vergnügt, und ihr wurde zum ersten Mal bewußt, daß er eigentlich ein ziemlich attraktiver Mann war, ein Mann mit einem gewissen, ganz eigenen Reiz. Aber natürlich hat er mir auch das Leben gerettet, dachte sie. Ich bin einfach dankbar.

»Was treibst du hier überhaupt?« fragte sie.

Er lachte. »Dich einholen. Ich dachte, du bist ein ganzes Stück vor mir.«

Der Pfad teilte sich. Rechts ging ein breiterer ab, der sanft nach unten zu fuhren schien. Der linke war viel schmaler und verlief eben. Aber er schien auch viel weniger benutzt zu sein. »Was meinst du?« fragte Kate.

»Bleiben wir auf der Hauptstraße«, erwiderte Chris. Er ritt voraus, und Kate folgte ihm gerne. Der Wald um sie herum wurde üppiger, die Farne, die ein wenig aussahen wie riesige Elefantenohren, wuchsen beinahe zwei Meter hoch und nahmen ihnen die Sicht. In der Entfernung hörte sie das Brausen von Wasser. Das Gelände neigte sich nun stärker, und wegen der Farne konnte sie nicht sehen, wohin ihr Pferd trat. Sie stiegen beide ab und banden ihre Pferde an einen Baum. Dann gingen sie zu Fuß weiter.

Der Abhang wurde sehr steil, der Pfad war die reinste Schlammbahn. Chris rutschte aus und griff nach Ästen und Buschwerk, um seinen Sturz zu bremsen. Kate sah zu, wie er immer weiter rutschte, und plötzlich war er, mit einem Aufschrei, verschwunden. Sie wartete. »Chris?« Keine Antwort.

Sie tippte sich an ihren Ohrstöpsel. »Chris?« Nichts.

Sie wußte nicht recht, was sie tun sollte, ob sie weitergehen oder umkehren sollte. Schließlich beschloß sie, ihm zu folgen, aber vorsichtig, da sie jetzt wußte, wie glitschig der Pfad war. Doch schon nach wenigen behutsamen Schritten rutschten die Füße unter ihr weg, und sie schlitterte hilflos durch den Schlamm. Immer wieder knallte sie gegen Bäume, mit einer Wucht, daß ihr die Luft wegblieb. Das Gelände wurde immer steiler. Sie fiel rückwärts in den Schlamm und rutschte auf dem Hintern weiter in die Tiefe. Mit den Füßen versuchte sie sich von den Bäumen abzustoßen, die ihr entgegensausten. Äste zerkratzten ihr das Gesicht und rissen ihr die Hände auf, wenn sie versuchte, sich daran festzuhalten. Sie schien ihren Absturz nicht bremsen zu können.

Und das Gelände wurde noch steiler. Der Baumbestand vor ihr lichtete sich, sie sah jetzt Licht zwischen den Stämmen und hörte das Rauschen von Wasser. Sie rutschte einen Pfad hinunter, der parallel zu einem kleinen Bach verlief. Der Wald wurde immer lichter, und dann sah sie, daß er etwa zwanzig Meter vor ihr abrupt endete. Das Wasserrauschen wurde lauter.

Plötzlich wußte sie, warum der Wald so plötzlich aufhörte.

Es war der Rand einer Felswand.

Und dahinter war ein Wasserfall. Direkt vor ihr.

Entsetzt drehte Kate sich auf den Bauch und grub ihre Finger wie

Klauen in den Schlamm, aber es half nichts. Sie rutschte immer weiter.

Sie konnte sich nicht bremsen. Tiefer und tiefer ging es in der

Schlammrinne, sie drehte sich wieder auf den Rücken und konnte nichts anderes mehr tun, als hilflos auf das Ende zu warten, und plötzlich schoß sie aus dem Wald hinaus und flog durch die Luft.

Sekundenbruchteile spater krachte sie auf Laubwerk, griff danach, und es hielt. Offenbar hing sie in den Ästen eines großen, über den Rand hinausragenden Baumes. Der Wasserfall war direkt unter ihr. Er war nicht so groß, wie sie gedacht hatte. Drei, vielleicht fünf Meter tief Unten sah sie ein Becken. Aber sie konnte nicht feststellen, wie tief es war.

Sie versuchte, an den Ästen in Richtung Stamm zu klettern, aber ihre Hände waren glitschig vom Schlamm. Immer wieder rutschte sie ab, und schließlich kippte sie auf dem Ast langsam nach unten. Wie ein Faultier hing sie mit Händen und Beinen an dem Baum-arm und versuchte, sich daran entlangzuhangeln. Nach eineinhalb Metern merkte sie, daß sie es nicht schaffen würde. Sie fiel.

Und prallte auf einen weiteren Ast, einen guten Meter tiefer. Einen

Augenblick hing sie so, griff mit glitschigen, schlammigen Händen nach dem Ast. Dann fiel sie wieder und hing im nächsten Ast.

Jetzt war sie nur noch einen guten Meter über dem Wasserfall, der brausend und spritzend in die Tiefe stürzte. Die Äste des Baums waren feucht von der Gischt. Sie schaute nach unten zu dem brodelnden

Becken am Fuß des Wasserfalls. Doch sie konnte den Grund nicht sehen, wußte folglich nicht, wie tief das Becken war.

Während Kate so an diesem gefährlich schwankenden Ast hing, dachte sie nach. Wo zum Teufel ist Chris? Im nächsten Augenblick verlor sie den Halt und stürzte in die Tiefe.

Das Wasser war ein eisiger Schock, ein blubberndes, milchiges Brodeln. Sie wurde herumgewirbelt, strampelte orientierungslos, schlug gegen die Felsen am Grund. Schließlich tauchte sie unter dem Wasserfall auf, der mit unglaublicher Gewalt auf ihren Kopf prasselte. Sie konnte nicht atmen, und so tauchte sie wieder, schwamm ein Stück und kam ein paar Meter weiter vorne wieder an die Oberfläche. Das Wasser im Becken war ruhiger, aber noch immer eiskalt. Kate stieg heraus und setzte sich ans Ufer. Das aufgewühlte Wasser hatte ihr allen Schlamm aus den Kleidern und vom Körper ge-spült. Sie fühlte sich irgendwie neu - und sehr glücklich, am Leben zu sein.

Während sie langsam wieder zu Atem kam, sah sie sich um. Sie befand sich in einem schmalen Tal, und das nachmittägliche Sonnenlicht fiel durch den Gischtschleier des Wasserfalls. Das Tal war üppig und feucht. Das Gras war naß, Bäume und Felsen waren mit Moos bedeckt. Direkt vor sich sah sie einen Steinpfad, der zu einer kleinen Kapelle führte.

Auch die Kapelle war naß, alle Oberflächen waren mit einem schleimigen Moder bedeckt, der die Mauern überzog und vom Dachrand tropfte. Der Moder war leuchtend grün. Die grüne Kapelle.

Neben der Tür zur Kapelle lagen in unordentlichen Haufen kaputte Rüstungen, verrostete Brustpanzer und verbeulte Helme, und auch Schwerter und Äxte lagen willkürlich in der Umgebung verstreut. Kate suchte nach Chris, sah ihn aber nirgends. Offensichtlich war er nicht die ganze Strecke gefallen wie sie. Wahrscheinlich suchte er sich gerade einen anderen Weg in dieses Tal. Kate beschloß, auf ihn zu warten; zuvor war sie sehr froh gewesen, ihn zu sehen, und jetzt vermißte sie ihn. Aber sie sah ihn nirgends. Und abgesehen vom Rauschen des Wasserfalls hörte sie kein Geräusch in dem kleinen Tal, nicht einmal Vogelgezwitscher. Es war unheimlich still. Trotzdem hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Noch etwas anderes war hier - sie spürte eine Präsenz in diesem Tal. Ein Knurren kam aus dem Inneren der Kapelle, ein gutturales, animalisches Geräusch.

Sie stand auf und ging vorsichtig den Steinpfad hoch zu den Waffen. Sie hob ein Schwert auf und umklammerte den Griff mit beiden Händen, auch wenn sie sich blöd dabei vorkam, denn das Schwert war schwer, und sie wußte, daß sie weder die Kraft noch das Können hatte, es zu benutzen. Sie stand jetzt dicht vor der Tür der Kapelle und roch einen starken Verwesungsgestank, der aus dem Inneren kam. Wieder hörte sie das Knurren.

Wie durch Zauber stand plötzlich ein Ritter in voller Rüstung in der Tür. Er war ein Riese, über zwei Meter groß, und seine Rüstung war beschmiert mit grünem Moder. Auf dem Kopf trug er einen schweren Helm, so daß sie sein Gesicht nicht sehen konnte, und in den Händen eine mächtige, zweischneidige Axt, die aussah wie ein Henkersbeil.

Die Axt schwang hin und her, als der Ritter auf sie zukam. Instinktiv wich sie zurück, ließ jedoch die Axt nicht aus den Augen. Ihr erster Gedanke war davonzulaufen, aber er war so schnell aufgetaucht, daß sie befürchtete, er könnte sie einholen. Außerdem wollte sie ihm nicht den Rücken zukehren. Aber angreifen konnte sie ihn auch nicht, es kam ihr vor, als wäre er doppelt so groß wie sie. Er sagte kein Wort, aus dem Helm kamen nur Grunzen und Knurren — animalische Geräusche, irre Geräusche. Er muß wahnsinnig sein, dachte sie. Der Ritter kam schnell näher, was sie zum Handeln zwang. Sie schwang das Schwert mit aller Kraft, er hob die Axt, um den Schlag abzuwehren, und Metall klirrte auf Metall. Ihr Schwert vibrierte so stark, daß es ihr beinahe entglitten wäre. Wieder holte sie aus, und diesmal zielte sie tief, um seine Beine zu treffen, doch er parierte behende, und eine schnelle Drehung seiner Axt riß ihr das Schwert aus den Händen. Es landete weit weg im Gras.