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Da stand Meggie nun, zwischen all den schweigenden Büchern, und fragte sich, ob sie ihm nachgehen sollte ... ob sie ihn bitten sollte, ihr das Buch zu zeigen. Würde er sehr böse sein? Sie wollte gerade ihren ganzen Mut zusammennehmen und ihm folgen, als sie Schritte hörte - schnelle, entschlossene Schritte, hastig vor Ungeduld. Das konnte nur Elinor sein. Was nun?

Meggie öffnete die nächste Tür und schlüpfte hinein. Ein Himmelbett, ein Schrank, Fotos in silbernen Rahmen, ein Stapel Bücher auf dem Nachttisch, auf dem Teppich ein aufgeschlagener Katalog, die Seiten bedeckt mit Abbildungen alter Bücher. Sie war in Elinors Schlafzimmer geraten. Mit klopfendem Herzen lauschte sie nach draußen, hörte Elinors energische Schritte und dann, wie die Tür zur Bibliothek sich ein zweites Mal schloss. Vorsichtig schob sie sich wieder auf den Flur hinaus. Sie stand noch unschlüssig vor der Bibliothek, als sich von hinten plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte. Eine zweite erstickte ihren Schreckensschrei.

»Ich bin's!«, raunte Staubfinger ihr ins Ohr. »Ganz ruhig, sonst haben wir beide Ärger, verstehst du?«

Meggie nickte, und Staubfinger nahm langsam die Hand von ihrem Mund. »Dein Vater will dieser Hexe das Buch geben, stimmt's?«, flüsterte er. »Hat er es aus dem Bus geholt? Sag schon. Er hatte es dabei, oder?«

Meggie stieß ihn von sich weg. »Ich weiß nicht!«, zischte sie. »Außerdem - was geht Sie das an?«

»Was mich das angeht?« Staubfinger lachte leise. »Nun, vielleicht erzähle ich dir irgendwann, was mich das angeht. Aber jetzt will ich nur wissen, ob du es gesehen hast.«

Meggie schüttelte den Kopf. Sie wusste selbst nicht, warum sie Staubfinger anlog. Vielleicht, weil seine Hand sich etwas zu fest auf ihren Mund gepresst hatte.

»Meggie! Hör mir zu!« Staubfinger blickte ihr eindringlich ins Gesicht. Seine Narben sahen aus wie blasse Striche, die ihm jemand auf die Wangen gezeichnet hatte, zwei Striche auf die linke, leicht geschwungen, ein dritter auf die rechte, noch länger, vom Ohr bis zum Nasenflügel. »Capricorn wird deinen Vater töten, wenn er das Buch nicht bekommt!«, raunte Staubfinger. »Er wird ihn töten, verstehst du? Habe ich dir nicht erklärt, wie er ist? Er will das Buch haben, und er bekommt immer, was er will. Es ist lächerlich zu glauben, dass es hier sicher vor ihm ist.«

»Mo denkt das nicht!«

Staubfinger richtete sich auf und starrte auf die Tür der Bibliothek. »Ja, ich weiß«, murmelte er. »Das ist ja das Problem. Und deshalb -«, er legte Meggie beide Hände auf die Schultern und schob sie auf die verschlossene Tür zu, »- deshalb gehst du jetzt ganz unschuldig dahinein und findest heraus, was die beiden mit dem Buch vorhaben. Ja?«

Meggie wollte protestieren. Doch ehe sie sich versah, hatte Staubfinger die Tür geöffnet und sie in die Bibliothek geschoben.

Nur ein Bild

Wer Bücher stiehlt oder ausgeliehene Bücher zurückbehält, in dessen Hand soll sich das Buch in eine reißende Schlange verwandeln. Der Schlagfluß soll ihn treffen und all seine Glieder lähmen. Laut schreiend soll er um Gnade winseln, und seine Qualen sollen nicht gelindert werden, bis er in Verwesung übergeht. Bücherwürmer sollen in seinen Eingeweiden nagen wie der Totenwurm, der niemals stirbt. Und wenn er die letzte Strafe antritt, soll ihn das Höllenfeuer verzehren auf immer.

Inschrift in der Bibliothek des Klosters San Pedro in Barcelona, zitiert von Alberto Manguel

Sie hatten das Buch ausgepackt, Meggie sah das Packpapier auf einem Stuhl liegen. Keiner bemerkte, dass sie hereingekommen war. Elinor beugte sich über eins der Lesepulte, Mo stand neben ihr. Beide kehrten der Tür den Rücken zu.

»Unfassbar. Ich dachte, es gäbe kein einziges Exemplar mehr«, sagte Elinor gerade. »Es kursieren eigenartige Geschichten über dieses Buch. Ein Antiquar, bei dem ich oft einkaufe, hat mir erzählt, dass ihm vor Jahren drei Exemplare gestohlen wurden, und zwar am selben Tag. Fast dieselbe Geschichte habe ich von zwei Buchhändlern gehört.«

»Tatsächlich? Wirklich seltsam!«, sagte Mo, doch Meggie kannte seine Stimme gut genug, um zu hören, dass seine Verwunderung geheuchelt war. »Na ja, wie dem auch sei. Auch wenn es kein seltenes Buch wäre, für mich ist es sehr wertvoll und ich wüsste gern, dass es gut aufgehoben ist, für eine Weile, bis ich es wieder abhole.«

»Bei mir ist jedes Buch gut aufgehoben«, antwortete Elinor ungnädig. »Das weißt du. Sie sind meine Kinder, meine tintenschwarzen Kinder, und ich hege und pflege sie. Ich halte das Sonnenlicht von ihren Seiten fern, staube sie ab und beschütze sie vor hungrigen Bücherwürmern und schmutzigen Menschenfingern. Dieses hier wird einen Ehrenplatz erhalten, und niemand wird es zu Gesicht bekommen, bis du es zurückhaben willst. Besucher sind in meiner Bibliothek eh unerwünscht. Sie hinterlassen nur Fingerabdrücke und Käserinden in meinen armen Büchern. Außerdem verfüge ich, wie du weißt, über eine sehr kostspielige Alarmanlage.«

»Ja, das ist besonders beruhigend!« Mos Stimme klang erleichtert. »Ich danke dir, Elinor! Ich danke dir wirklich sehr. Und sollte in nächster Zeit doch jemand an deine Tür klopfen und nach dem Buch fragen, dann tu bitte so, als hättest du nie davon gehört, ja?«

»Selbstverständlich. Was tut man nicht alles für einen guten Buchbinder? Außerdem bist du der Mann meiner Nichte. Weißt du, dass ich sie manchmal vermisse? Nun ja, ich denke, das geht dir genauso. Deine Tochter scheint ganz gut ohne sie auszukommen, oder?«

»Sie erinnert sich kaum«, sagte Mo leise.

»Nun, das ist ein Segen, nicht wahr? Manchmal ist es schon praktisch, dass unser Gedächtnis nicht halb so gut ist wie das der Bücher. Ohne sie wüssten wir vermutlich gar nichts mehr. Es wäre alles vergessen: der Trojanische Krieg, Kolumbus, Marco Polo, Shakespeare, all die verrückten Könige und Götter ...« Elinor drehte sich um - und erstarrte.

»Habe ich dein Klopfen überhört?«, fragte sie und starrte Meggie so feindselig an, dass diese allen Mut zusammennehmen musste, um sich nicht einfach umzudrehen und schnell wieder hinaus auf den Flur zu schlüpfen.

»Wie lange stehst du schon da, Meggie?«, fragte Mo.

Meggie schob das Kinn vor. »Sie darf es sehen, aber vor mir versteckst du es!«, sagte sie. Angriff war immer noch die beste Verteidigung. »Du hast noch nie ein Buch vor mir versteckt! Was ist denn so Besonderes an diesem? Werde ich blind, wenn ich es lese? Beißt es mir die Finger ab? Was für furchtbare Geheimnisse stehen dadrin, die ich nicht erfahren darf?«

»Ich hab meine Gründe, es dir nicht zu zeigen«, antwortete Mo. Ganz blass war er. Ohne ein weiteres Wort ging er auf sie zu und wollte sie zur Tür ziehen, aber Meggie riss sich los.

»Oh, sie ist starrköpfig!«, stellte Elinor fest. »Das macht sie mir fast sympathisch. Ich erinnere mich, dass ihre Mutter früher genauso war. Komm her.« Sie trat zur Seite und winkte Meggie zu sich. »Du wirst sehen, es ist nichts sonderlich Spannendes an diesem Buch, zumindest nicht für deine Augen. Aber überzeuge dich selbst. Den eigenen Augen glaubt man immer noch am ehesten. Oder ist dein Vater da anderer Meinung?« Sie warf Mo einen fragenden Blick zu.

Mo zögerte - und schüttelte schicksalergeben den Kopf.

Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Lesepult. Es schien nicht besonders alt zu sein. Meggie wusste, wie ein wirklich altes Buch aussah. In Mos Werkstatt hatte sie schon Bücher gesehen, deren Seiten fleckig wie Leopardenfell waren und fast ebenso gelb. Sie erinnerte sich an eins, dessen Einband von Holzwürmern befallen gewesen war. Wie winzige Einschusslöcher hatten die Fressspuren ausgesehen, und Mo hatte den Buchblock herausgelöst, die Seiten sorgsam neu zusammengeheftet und ihnen, wie er es nannte, ein neues Kleid geschneidert. So ein Kleid konnte aus Leder sein oder aus Leinen, schlicht oder mit einer Prägung versehen, die Mo mit winzigen Stempeln hineindrückte und manchmal auch vergoldete.