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»Jetzt aber raus hier«, befahl Achmed und gestikulierte zu dem Ausgang, wo das Loritorium gewesen war. »ich weiß nicht, wie lange die Tagessternfanfare es noch aufhalten kann.«

»Aber wo ist Grunthor? Und das Kind?«

Achmed schüttelte den Kopf. »Raus hier, und zwar sofort«, kommandierte er. »Wo sind sie?«

»Ich weiß es nicht!«, fauchte er. Der Verlust von Grunthor und der Gedanke, dass die Schlüssel, welche den Kerker öffnen konnten, sich womöglich auf dem Weg in die Tiefen der Erde befanden, war mehr, als er im Moment verkraften konnte. Um nicht den Verstand zu verlieren, konzentrierte er sich ausschließlich darauf, Rhapsody aus den Ruinen der Kolonie herauszuführen, ehe diese endgültig einstürzte. Verschwommen überlegte er noch, ob er ihr damit wohl einen Gefallen tat, wenn man bedachte, was ihr bevorstand. »Verdammt! Raus hier, solange du noch kannst!«

Doch sie hörte noch immer nicht auf ihn. Stattdessen starrte sie in die Trümmer der Höhle, mit staunend aufgerissenem Mund. Achmed drehte sich um und folgte ihrem Blick. Dort, umwallt von dicken Wolken aus Asche und Staub, sah er das Schlafende Kind. Mit geschlossenen Augen stand das Mädchen da, aufrecht, und ihre Füße verschmolzen mit dem Schutt auf dem Boden der Kolonie. Die Tagesternfanfare, die jetzt unbeweglich in Rhapsodys Hand glomm, warf kleine Wellen von Licht über sie, über ihre glatten Gesichtszüge, das schimmernde Grau ihrer Haut. Im Feuerschein schien sie riesig, größer als sie liegend gewirkt hatte, und ihr langer Schatten tanzte über die zerstörten Höhlenwände.

»Nein«, flüsterte Rhapsody erstickt. »Nein, bitte. Schlaf weiter, Kleines.«

Langsam hob das Mädchen erst den einen, dann den anderen Fuß vom Boden und machte einen Schritt nach vorn.

Die Schlafwandlerin.

»Bitte«, flüsterte Rhapsody wieder. »Bitte nicht, Kleines, die Zeit ist noch nicht reif. Schlaf weiter.«

Doch das Erdenkind achtete nicht auf sie. Schwerfällig kletterte es über die Steinhaufen, glitt zwischen den Felsen hindurch, als watete es durch knöcheltiefes Wasser, die Augen weiterhin fest geschlossen. Seitenarme der Ranke peitschten kraftlos nach dem Mädchen, geschwächt von dem Bann, den die seltsame insektenartige Musik der Großmutter auf sie ausübte. Achmed streckte Rhapsody die Hand entgegen. »Komm«, sagte er. Unwillkürlich gehorchte sie und folgte ihm über die Steinbrocken, die einstmals die Decke der Höhle gebildet hatten. So folgten sie dem Erdenkind, das sich unbeirrt einen Weg durch all den Schutt bahnte. Als sie an den dicken Fangarmen vorüberkamen, begann die Dämonenranke zu zittern, sodass von den zerstörten Wänden und der bröckelnden Decke noch mehr Staub und Schutt herabstürzten. Rhapsody hustete, während Achmed sie über einen Erdhaufen und unter einem riesigen, zischenden Rankenarm hindurchschleppte. Winzige Tentakel züngelten in der Dunkelheit und wurden von der Macht des Bannrituals zurückgerissen. In ohnmächtiger Wut fauchten und spuckten die Wurzeln.

Als Rhapsody sie hörte, wurden ihre Augen plötzlich schmal, denn sie erinnerte sich voller Hass daran, wie Jo gestorben war. Kurz entschlossen ließ sie Achmeds Hand los, holte mit dem Schwert so schnell aus, dass er ihr nicht mit den Augen folgen konnte, und trennte die widerlichen Fangarme mit einem mächtigen Schlag ab. Die Ranke kreischte und erschauderte, die kleinen Triebe fingen Feuer und verbrannten auf dem Boden zu Asche.

»Nicht jetzt!«, zischte Achmed. »Hör zu.«

Das Ritual wurde schwächer. Das ferne Echo der Stimme der Großmutter war dünner und kratziger geworden, denn allmählich forderte die Anstrengung ihren Tribut.

»Sie ist mit ihrer Kraft am Ende«, sagte Achmed, zog Rhapsody unter der bebenden Wurzel hervor und weiter den Tunnel hinauf. »Wir müssen ins Loritorium.«

»Aber Grunthor ...«

»Komm«, beharrte Achmed. Auch ihm fiel es furchtbar schwer, den Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Der Herzschlag der Großmutter wurde immer schwächer, und die Wirkung des Rituals ließ nur allzu deutlich nach. Bald würde das alte Herz am Ende sein. Wenn es versagte, ehe sie ins Loritorium gelangten, hatten sie ihre letzte Gelegenheit auf eine Flucht verspielt.

Nicht nur sie wären dann verloren, sondern auch der Rest der Welt, denn die Gefangenen des uralten Kerkers tief im Innern der Erde waren auf dem besten Wege zu entkommen. Ein schreckliches Krachen und Rumpeln hallte durch den Gang vor ihnen, Felsbrocken stürzten herab, und ein dicker Staubnebel wallte auf. Instinktiv bedeckten sie Kopf und Augen. Als der Lärm nachließ, blickten sie gleichzeitig auf und wedelten mit den Armen den grauen Staub weg. Achmed nickte, und sie eilten weiter, nur um gleich wieder stehen zu bleiben.

Eine Mauer aus Felsbrocken blockierte den Durchgang. Verzweifelt betastete Achmed das Hindernis mit den Händen und deutete dann zur Seite. Zwischen den schweren Steinbrocken war eine winzige Öffnung die einzige Lücke.

Rasch steckte Rhapsody ihr Schwert in die Scheide und kroch, bitteren Staub einatmend, in das Loch. Die scharfen Kanten der Basaltsplitter zerrissen ihre Hose und schnitten ihre Hände auf, während sie sich auf die andere Seite hindurchschlängelte und dann sofort damit begann, so viele Trümmer wie möglich wegzuräumen.

Einen Augenblick später erschien Achmeds Kopf in der Lücke, das Gesicht schmerzverzerrt. Seine Schultern blieben stecken, während er sich durch die schmale Öffnung quälte, und nur mit größter Anstrengung rutschte er wieder zurück und versuchte es erneut, indem er zuerst einen Arm durchstreckte. Rhapsody packte seine Hand und zog, den Fuß fest gegen die Mauer gestemmt. Sie konnte das Krachen von Knochen in seiner Hand spüren und schauderte.

»Fester«, murmelte Achmed, das Gesicht in den Schutt der Tür gedrückt.

»Deine Rippen ...«

»Zieh fester«, knurrte er. Also biss Rhapsody die Zähne zusammen, brachte ihren Fuß erneut in Stellung und zog mit aller Kraft. Ein unangenehmer Ruck ging durch ihre Hände, und sie hörte ein scharfes Einatmen, als Achmed einen Schmerzensschrei unterdrückte. Doch immerhin waren jetzt sein Kopf und seine Schultern befreit. Rhapsody legte die Hände unter seine Achseln und zerrte, bis sie seinen Oberkörper herausgezogen hatte, den Rücken von blutigen Schürfwunden bedeckt. Einen Augenblick später hatte er es ganz geschafft, und während er seine gebrochenen Rippen umklammerte, half sie ihm beim Aufstehen. Rasch nickten sie sich zu, wandten sich um und rannten weiter den Gang entlang. Sie kletterten über einen Haufen Granit, der einst den großen Torbogen gebildet hatte; jetzt legten die zerbrochenen Worte auf dem Boden ein stummes Zeugnis ihrer Weisheit ab. Das Schlafende Kind war nicht mehr zu sehen. Auf der Spitze des Haufens rutschte Achmed aus und geriet mit dem Fuß in eine Spalte. Rhapsody zog ihn heraus und folgte ihm über den Hügel.

Vor ihnen gähnte der Tunnel zum Loritorium.

»Kannst du das Erdenkind sehen?«, japste Rhapsody. Achmed schüttelte den Kopf, rannte den Schuttberg hinunter und weiter den Gang entlang, bis sie den glatten Marmorboden des Loritoriums erreichten.

Die Flamme der Feuerquelle wand sich hell in ihrem Brunnen und warf grimmige Schatten über die Gassen und stillen Gebäude. Rhapsody lief zum zentralen Platz, wo sich die Truhen mit den Elementen befanden; dann blieb sie stehen und atmete erleichtert auf. Hier stand das Schlafende Kind, ganz in der Nähe des Altars aus Lebendigem Gestein, die Augen immer noch geschlossen. Die Schlafwandlerin.

Rhapsody verlangsamte ihren Schritt und ging so leise sie konnte auf die große Gestalt zu, sorgfältig darauf bedacht, sie nicht zu erschrecken. Das Erdenkind strich mit den Händen über den Altar, wandte sich dann langsam um, setzte sich auf die Steinplatte und legte sich nieder. Die Arme über dem Bauch gekreuzt, nahm es wieder die Position ein, in der es auf dem Katafalk geruht hatte. Die Schatten des Feuerscheins zogen über das Gesicht, das sich entspannte und ganz friedlich wurde. Es stieß einen tiefen Seufzer aus.