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Die Seherin war seine Großmutter und hätte ihn nie belogen, sowohl aufgrund ihrer Verwandtschaft als auch aus dem Umstand heraus, dass sie ansonsten Gefahr liefe, ihre Kräfte zu verlieren. Und einen solchen Verlust hätte Anwyn niemals riskiert. Ebenso wenig Rhonwyn, Anwyns Schwester, Seherin der Gegenwart. Er hatte sie gebeten, den Kompass zu benutzen, eins der drei Werkzeuge, mit denen Merithyn, ihr cymrischer Entdecker-Vater, das Land gefunden hatte. Ashes Hand hatte gezittert, als er ihr die kupferne Dreipfennigmünze gegeben hatte, ein wertloses, dreizehnseitiges Geldstück, Gegenstück dessen, das er Emily anvertraut hatte. Diese Münzen sind einzigartig auf der Welt, hatte er der Seherin erklärt, und seine damals noch so junge Stimme hatte gezittert und seine Qual verraten. Wenn du die zweite dieser Art finden kannst, dann hast du Emily gefunden. Die Seherin der Gegenwart hatte den Kompass in ihren zarten Händen gehalten. Jetzt erinnerte er sich daran, wie er geglüht und dann geklungen hatte, ein summendes Echo, das ihn hinter den Augen geschmerzt hatte. Aber schließlich hatte Rhonwyn traurig den Kopf geschüttelt.

Deine Münze ist die einzige auf der ganzen Welt, mein Kind; es tut mir Leid. Es existiert keine andere, die ihr gleicht, außer vielleicht unter den Wogen des Meeres. Nicht einmal ich kann sehen, welche Schätze in den Gewölben des Ozean-Vaters ruhen. Ashe hatte nicht wissen können, dass die Kräfte der Seherin nicht in die Erde selbst hinabreichten, dorthin, wo die Zeit keine Herrschaft hat.

Er hatte aufgegeben, hatte die furchtbare Wahrheit beinahe geglaubt, obgleich er Emily auch weiterhin im Gesicht jedes Geschöpfs gesucht hatte, das ihr auch nur im Geringsten geähnelt hatte. In jedem seiner Gedanken hatte sie gewohnt, hatte ihn in seinen Träumen angelächelt, hatte das Versprechen erfüllt, das er ihr in seinen Abschiedsworten gegeben hatte, ohne es zu wissen.

Bis ich dich wieder sehe, werde ich nur an dich denken.

Erst viele Jahre später hatte ihr Bild ihn verlassen, im Angesicht des Grauens, in das sein Leben sich verwandelt hatte. Wo sein Herz einmal ein heiliger Schrein ihres Gedenkens gewesen war, war es nun ein dunkler, verquerer Ort, berührt von der Hand des Bösen. In einer solchen Leichenhalle konnte die Erinnerung an Emily nicht länger bestehen. Ihm war es ein Rätsel, warum sie ausgerechnet in dieser Nacht zu ihm zurückgekehrt war, auf dem Rauch schwebend, der vom Kamingitter aufstieg und sich hinter seine Augen legte.

Bis ich dich wieder sehe, werde ich nur an dich denken.

Das Bild in der Ferne verschwamm. Verärgert griff Ashe wieder nach dem Nebel in seinem Gedächtnis, während Emilys Bild sich aufzulösen begann und sie ihm im Verschwinden noch etwas zurief.

Ich liebe dich, Sam. Ach, wie lange habe ich schon auf dich gewartet. Ich war mir allerdings ganz sicher, dass du zu mir kommen würdest, wenn ich es mir nur fest genug wünschte. Ashe setzte sich auf; er zitterte, und seine feuchtkalte Haut war schweißüberströmt, eingehüllt in den kühlen Dunst des Nebelmantels. Wenn doch nur der gleiche Zauber auch bei ihm gewirkt hätte. Die Firbolg-Wache am Ende der Eingangshalle nickte Achmed ehrerbietig zu, als dieser über seine Schwelle trat und den Korridor hinunter zu Rhapsodys Zimmer ging. Dort klopfte er laut und riss die Tür auf ein Teil der Scharade, die für die Bolg-Bevölkerung abgehalten wurde, die glaubte, dass Rhapsody und Jo des Königs Kurtisanen seien, und die beiden Frauen deshalb in Ruhe ließ. Sowohl Achmed als auch Grunthor amüsierten sich prächtig darüber, weil sie wussten, dass dieses Überlebensspiel Rhapsody ganz und gar nicht gefiel. Doch nach außen nahm sie in der Angelegenheit eine nüchternpraktische Haltung ein, vor allem Jo zuliebe.

Das Feuer in ihrem Kamin flackerte unstet und spiegelte den konzentrierten Ausdruck auf ihrem Gesicht wider. Als Achmed hereinkam, blickte sie nicht von der Schriftrolle auf, über der sie gerade brütete.

»Nun, einen guten Morgen wünsche ich dir, Erste der Frauen. Du musst dich schon ein wenig mehr ins Zeug legen, wenn du die Bolg überzeugen willst, dass du die königliche Hure bist.«

»Halt den Mund«, erwiderte Rhapsody mechanisch und las weiter. Achmed schmunzelte. Er nahm die Teekanne von ihrem unberührten Frühstückstablett und goss sich eine Tasse ein; der Tee war kalt. Offensichtlich war sie noch früher aufgestanden als üblich.

»Was für einen dumm-rischen Text liest du denn diesmal?«, fragte er und hielt ihr die Tasse mit dem erkalteten Tee hin. Ohne aufzublicken, berührte Rhapsody die Tasse. Einen Augenblick später spürte Achmed, wie Wärme durch die glatten Tonwände des Bechers drang; er blies den Dampf weg und nahm einen kräftigen Schluck.

»Die Verheerung des Wyrms. Erstaunlich ... Das ist gestern Abend aus dem Nichts unter meiner Tür erschienen. Welch ein sonderbarer Zufall.«

Achmed setzte sich auf ihr ordentlich gemachtes Bett und versuchte sein Grinsen zu verbergen. »Ja, wirklich. Hast du irgendetwas Wissenswertes über Elynsynos erfahren?«

Endlich überzog ein Lächeln Rhapsodys Gesicht, und sie schaute zu ihm auf. »Na ja, sehen wir mal.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und hielt die uralte Schriftrolle ins Licht der Kerze.

»Elynsynos soll zwischen einhundert und fünfhundert Fuß lang sein, mit Zähnen so lang und scharf wie fein geschliffene Bastardschwerter«, las sie vor. »Angeblich kann die Drachin jede Form annehmen, die ihr beliebt, einschließlich die einer Naturkatastrophe, wie zum Beispiel eines Wirbelsturms, eines Erdbebens, einer Flut oder eines Sturms. In ihrem Bauch befinden sich Edelsteine aus Schwefel, geschaffen in den Feuern der Unterwelt, die es ihr ermöglichen, alles zu vernichten, das sie mit ihrem Atem berührt. Elynsynos ist böse und grausam; als Merithyn, ihr Seefahrer-Geliebter, nicht zurückkehrte, machte sie sich auf zu einem Werk der Zerstörung, bei dem sie die Hälfte des Kontinents bis hinauf in die Provinz Bethania vernichtete. Die verheerende Feuersbrunst, die sie auslöste, entzündete die ewige Flamme in der Basilika und brennt dort noch heute.«

»Ich glaube, ich höre da einen sarkastischen Unterton in deiner Stimme. Hältst du diesen historischen Bericht etwa für gefälscht?«

»Einiges davon allerdings. Du vergisst, dass ich Sängerin bin, Achmed. Wir sind diejenigen, die diese Balladen und Überlieferungen schreiben. Ich weiß ein bisschen besser darüber Bescheid als du, wie dergleichen ausgeschmückt und überzogen dargestellt werden kann.«

»Weil du es selbst schon getan hast?«

Rhapsody seufzte. »Das weißt du doch eigentlich besser. Sängerinnen und ganz besonders Benennerinnen können keine Lügen in die Welt setzen, ohne dadurch ihre Stellung und ihre Fähigkeiten zu verlieren, aber wir dürfen Geschichten erzählen, die unverbürgt oder frei erfunden sind, solange wir sie als das ausgeben, was sie sind nämlich Geschichten.«

Achmed nickte. »Wenn du diese Geschichte so in Bausch und Bogen als erfunden abtust, warum machst du dir dann Sorgen?«

»Wer sagt denn, dass ich mir Sorgen mache?«

Der Firbolg-König grinste höhnisch. »Das Feuer«, meinte er selbstgefällig und machte eine Kopfbewegung zum Kamin. Unwillkürlich wandte Rhapsody sich den Flammen zu; sie leckten unruhig an einem dicken Holzstück, das sich zu brennen weigerte. Wider Willen musste sie lachen.

»Na gut, du hast mich erwischt. Übrigens tue ich die Geschichte nicht in Bausch und Bogen ab. Ich habe nur gesagt, dass ich einige Teile für übertrieben halte. Aber manches könnte durchaus wahr sein.«

»Beispielsweise?«

Rhapsody legte das Schriftstück auf den Tisch zurück und verschränkte die Arme. »Nun, trotz der unterschiedlichen Angaben über ihre Größe bezweifle ich nicht, dass sie gigantisch war gigantisch ist.« Achmed meinte zu sehen, wie ein leichter Schauder sie durchlief. »Vielleicht kann sie wirklich die Form der Elemente annehmen; immerhin sagt man von den Drachen, dass sie mit allen fünf Elementen in Verbindung stehen. Vielleicht ist sie tatsächlich böse und heimtückisch, aber die Geschichte mit der Zerstörung des westlichen Kontinents glaube ich nicht.«