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Der Wind hinter den vereisten Glasscheiben kreischte triumphierend auf, als das Bild der Drachin, das sich im Fenster spiegelte, allmählich näher kam. Sie spürte, wie ihr verletztes Herz wild schlug, als sie über den Boden kroch und eine Spur aus dunklem Blut hinter sich herzog. Höchst vorsichtig tastete sie mit einer krallenbewehrten Klaue über das Holz und suchte nach dem Ursprung der Schwingung, die sie verspürt hatte. Als sie das kalte Metall unter ihrer Klaue fühlte, kämpfte sie gegen den Drang an, das Fernglas zu fest zu packen.

Mit letzter Kraft glitt sie zu den eisbedeckten Fenstern, die über den gewaltigen Abgrund unter ihr hinaussahen. Sie hob das Glas an ihr riesiges, schlangenartiges Auge und spähte so eindringlich wie möglich hindurch.

Sie hatte vergessen, dass ihr das Fernglas nur Dinge aus der Vergangenheit zeigen konnte, aber das war gleichgültig. Das Bild, das sich formte, als sie durch die Linse blickte, brachte in ihren Erinnerungen etwas zum Erklingen. Es war das Bild eines alten Ortes mit mystischer Heilkraft, eine verlassene Zitadelle, in der heiße Quellen flossen, ein Heilgarten mit blühenden Kräutern, die Geist, Körper und Seele besänftigten, wo sich die Wärme der Sonne mit den Heilwirkungen des lehmartigen Sandes verbanden, um auch die schwerste Infektion aus dem Körper oder die schrecklichste Erinnerung aus dem Kopf zu ziehen und nichts als süße Klarheit und Frieden zu hinterlassen. Dass diese Zuflucht für die Leidenden im Sand der Wüste versunken war, noch bevor ihr Vater vor fünfzehnhundert Jahren den Fuß auf diesen Kontinent gesetzt und sie selbst den sagenhaften Ort nie gesehen und erst recht nicht seine Heilkraft erfahren hatte, verstand sie ebenfalls nicht. Sie wusste nur, dass sie in der winzigen Linse des Fernglases genau das sah, wonach sie suchte.

Die untergegangene Stadt Kurimah Milani.

Die Drachin rang nach Atem und lachte rau auf.

4

Haguefort, Navarne

Aufgrund eines unerklärlichen Zufalls befand sich in dem Augenblick, da Rath an den Strand kam, der Mann, der einst den geschmähten Namen getragen hatte, nach dem der Jäger suchte, an einem nur wenige Meilen entfernten Ort. Dieser Mann starrte mit schweigender Verachtung das rosig-braune Steingebäude der kleinen Festung an, die als Haguefort bekannt war. Am liebsten hätte er ausgespuckt, als er die Wiedervereinigung beobachtete, die bei ihm den gleichen Abscheu hervorrief, den auch sein früherer Name bei anderen erweckt hatte.

Ysk.

Seit damals, da ihm verachtungsvoll dieser Name verliehen worden war, hatte der Mann auch schon andere Bezeichnungen getragen. Vor langer Zeit war er von dem Namen Ysk durch einen sehr erfahrenen Benenner gereinigt worden, der die Kunst der Schwingungen und ihrer Beeinflussung beherrscht hatte. Der Benenner hatte ihn einfach nur den Bruder genannt, denn er hatte gesagt, Ysk sei Bruder für alle, doch mit niemandem verwandt. Es war dieser Name, der ihm die Macht verliehen hatte, ein großer Heiler zu werden, doch stattdessen hatte er die andere Seite der Medaille gewählt und seine Zeit mit dem einsamen Geschäft eines gedungenen Mörders verbracht.

Jahrzehnte später hatte ihn ein weniger geschickter Vertreter derselben Zunft neu benannt, und da er nun über das Bergreich Firbolg herrschte, kannte ihn die dort lebende monströse Rasse, die ihm einst den Titel Ysk verliehen hatte, unter vielen gefürchteten und dummen Bezeichnungen: Das Glühende Auge, Der Erdenvertilger, Der Gnadenlose, Der Nachtmann. Er war knapp der Ehre entgangen, den geachtetsten traditionellen Titel zu erhalten, den die Bolg-Stämme ihren Häuptlingen und Kriegsherren gaben und den man grob mit »Der Oberste Geblähte« übersetzen konnte, denn so oder mit einem anderen Titel, der sich auf die Sinne bezog, konnte man ihn einfach nicht bezeichnen. In den dunklen Kavernen und Tunneln von Ylorc war er weder zu sehen noch zu hören und ganz bestimmt nicht zu riechen, es sei denn, er wollte es so.

Nun, in der gegenwärtigen Epoche der Geschichte, war er als Achmed die Schlange und König der Firbolg bekannt.

Der Name, den er bei seiner Geburt erhalten hatte, war mit der Zeit untergegangen und existierte nur noch in den tiefsten Grüften der Erinnerung. In den letzten zweitausend Jahren hatte er ihn lediglich ein einziges Mal genannt; er hatte ihn ganz leise in den Tiefen der Erde gegenüber der Benennerin ausgesprochen, die ihm seine augenblickliche Bezeichnung gegeben hatte.

Nun sah er zu, wie diese Frau die Stufen der rosig-braunen Festung hinaufgeführt wurde. Sie zitterte aufgrund ihrer kürzlich erfolgten Niederkunft und des beißenden Spätwinterwindes und atmete tief aus. Er wandte sich an seinen Sergeant-Major, ein gewaltiges Halbblut, das während des größten Teils seines Lebens sein ständiger Begleiter und Gefährte gewesen war.

»Niemand beobachtet uns. Wenn wir jetzt gehen, wird man unsere Abwesenheit erst nach unserer Heimkehr feststellen.«

Der Sergeant-Major schüttelte den Kopf und verbarg ein Lächeln.

»Nee, das war nich’ richtig«, sagte er und versuchte dabei, ernst zu klingen. »Der alte Ashe hat gesagt, wir sollen warten, damit wir ihm berichten können, was im Wald passiert is. Wir sollen nich drüber sprechen, bis wir zur Versammlung kommen, damit unsre Erinnerung noch frisch is.« Er deutete in die Richtung der beiden jungen Leute, des Herzogs und der Herzogin von Navarne, die ein kreischendes Bündel in ihren Armen hielten. »Scheint aber, wir haben was zu essen, solange wir warten müssen.«

Achmed lächelte schwach. »Meinst du, wir sollten Rhapsodys Kind verspeisen?«

»Ja. Warum nich?«

Das Lächeln des Firbolg-Königs verblasste, als die Wachen aus der Festung eintrafen, um ihn auf sein einsames Zimmer zu bringen.

»Weil es nicht für uns beide reicht«, sagte er in Hörweite der Soldaten.

»Hast recht, wie immer«, rief Grunthor liebenswürdig, während Achmed fortgeführt wurde. »Aber wie wär’s, wenn ich den Kopf abbeiße und du den Rest kriegst?«

Der Firbolg-König schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Es ist mit Ashe verwandt und schmeckt daher wahrscheinlich nach Schaf. Du weißt, wie sehr ich Schaf hasse.«

Das Kammermädchen, das inzwischen den Kindern den Säugling abgenommen hatte, stieß einen leisen Schrei des Entsetzens aus und hastete von den beiden ungeheuerlichen Männern fort. Der junge Herzog, seine neunjährige Schwester und die Festungswachen aber waren schon lange an die beiden gewöhnt und verzogen keine Miene.

Als der cymrische Herrscher befohlen hatte, dass alle Anwesenden in getrennte Zimmer geführt werden und die Zeit bis zur Versammlung schweigend verbringen sollten, hatten die meisten die Stirn gerunzelt. Jeder Einzelne, dem König Gwydion versprochen hatte, er werde sehr bald zu ihm gerufen, hatte dringende Geschäfte zu erledigen oder schreckliche Entdeckungen zu berichten, und sie alle ärgerten sich über die Verzögerung.

Alle außer Sergeant-Major Grunthor, dem gewaltigen Bolg-Kommandanten, der zustimmend nickte und gelassen dem unruhigen menschlichen Diener zu seinem Zimmer folgte. Sobald die Tür geschlossen war, sah sich der Sergeant rasch um, fand den Raum annehmbar und machte sich daran, sein persönliches Arsenal zu säubern.

So wie einige Männer Trinkflaschen, Jagdtrophäen oder Konkubinen sammelten, sammelte Grunthor Waffen mit Klingen. Er war noch stärker vernarrt in seine Kollektion als die meisten anderen Sammler, denn jedes Stück stand im Mittelpunkt einer bemerkenswerten Geschichte und war eine Erinnerung an einen blutigen Sieg, der in der Widerspiegelung des Stahls noch süßer erschien.

Wann immer es ihm sein Dienst erlaubte, schüttelte der riesige Bolg-Kommandant – der halb Firbolg und halb Bengard und ein siebeneinhalb Fuß großes Muskelpaket war, mit einer Haut, die die Farbe von alten Prellungen hatte – den Waffengurt ab, den er stets über den Rücken geschlungen trug, und breitete seine Waffen auf einem Tisch oder seinem Bett aus, wo er sie liebevoll polierte und dabei oft schräg und unmelodisch ein leises Kriegslied summte. Er nahm sich viel Zeit, jede einzelne Waffe zu benennen, und verspürte dadurch eine persönliche Beziehung zu ihnen. Sie waren für ihn Erinnerungen aus der alten Welt, in der das Leben einfacher, aber nicht leichter gewesen war.