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Behutsam setzte er einen Fuß in das Wasser.

»Siehst du ihn?«, fragte Ashe, während er aufstand und Rhapsody mit sich zog. »Siehst du irgendetwas?«

Achmed blinzelte und schüttelte den Kopf.

»Michael?«, flüsterte Rhapsody mit vom Salz aufgerauter Stimme.

Ashe legte den Arm um sie.

»MacQuieth«, sagte er. »Er war es, der Michael gefunden hat. Er hat ihn von der Klippe gestürzt und ist zusammen mit ihm ins Meer gefallen. Vielleicht hat er sogar den Dämon in sich aufgenommen.« Er verstummte. Ein Gefühl des Verlustes überwältigte ihn.

»Könnte er nicht überlebt haben?«, fragte Rhapsody. Sie beugte sich tiefer über den Rand des Wassers und schaute in die stäubende Gischt. »Glaube mir, es gibt tausende von Plätzen, wo man Unterschlupf finden kann.«

Achmed seufzte tief auf und watete an der Stelle, wo die Wellen sich brachen, vorbei ins Meer hinein. Langsam bückte er sich, bis seine empfindsame Haut untergetaucht war, und lauschte. Nach einem Augenblick richtete er sich rasch auf, schüttelte den Kopf und lief aus dem Meer hinaus.

»Nein«, sagte er. »Sein Herzschlag ist verschwunden, genau wie der Gestank des Dämons. Ich habe ihn einmal gehört; er klang wie eine große Glocke. Hier ist jetzt nichts mehr als der Klang der Wellen.«

»Welch ein unermesslicher Verlust«, sagte Ashe leise. »Stell dir vor, was er in seinem langen Leben gesehen hat und was er uns hätte sagen können. In den wenigen Tagen, die wir mit ihm verbracht haben, habe ich mehr über die Insel und meine Vorfahren gelernt als in der ganzen Zeit davor. Nun kenne ich den Stamm von Soldaten, aus dem Anborn hervorgegangen ist. Beide waren Blutsverwandte.« Er schirmte die Augen vor dem roten Glühen der Sonne am Rande des Horizonts ab. Es war ein helles Stück schwindenden Feuers. »Anborn hat ihn endlos lange studiert und ihn verehrt. Es war MacQuieth, nach dem er sein ganzes Leben ausgerichtet hat. So ein unersetzlicher Verlust für uns alle. Und dennoch ...«

Er erinnerte sich an den Anblick des alten Mannes, wie er blind im Licht der Morgensonne umherging. Er konnte sie nicht sehen, aber ihre Wärme spüren. Ihre Pracht war dicht hinter seinen Sinnen verborgen.

Der All-Gott schenke Euch einen guten Tag, Gevatter.

Wenn er das täte, wäre ich jetzt nicht mehr unter den Lebenden. Alle Jahre, die ich noch vor mir habe, und alle, die ich bereits gelebt habe, würde ich gegen einen eintauschen, an dem ich noch einmal sehen kann, was im Abgrund der Zeit verloren gegangen ist.

Ich verstehe.

Wirklich? Hmm. Das glaube ich nicht. Aber ich vermute, eines Tages, vielleicht in tausend oder mehr Jahren, wirst du es verstehen.

»Und dennoch was?«, fragte Rhapsody.

»Dennoch gibt es nichts, was zu betrauern wäre«, sagte Ashe nur. »Er hat seinen Frieden gefunden.«

Rhapsody nickte und wischte sich die schweren Locken aus den Augen. Sie erinnerte sich an Worte, die sie vor langer Zeit zu Elynsynos gesagt hatte, als sie der Drachin über den Verlust ihres gestorbenen Seemannes hinweggeholfen hatte.

Seeleute finden ihren Frieden im Meer, so wie die Lirin ihn im Wind unter den Sternen finden. Wir übergeben unsere Körper dem Wind durch das Feuer, nicht durch die Erde, so wie Seeleute den ihren dem Meer übergeben. Der Schlüssel zum Frieden liegt nicht dort, wo dein Körper ruht, sondern dort, wo dein Herz ist.

»Ich werde ein Requiem für ihn singen«, sagte sie.

»Und für seinen Sohn Hector«, meinte Ashe. »Er ist in den letzten Tagen der Insel auf ihr zurückgeblieben. MacQuieth hat es nie übers Herz gebracht, für ihn ein Requiem zu singen. Vielleicht kannst du es für sie beide tun.«

Rhapsody nickte und wischte sich das Salz unter den Augen weg. Sie raffte all ihre Stärke zusammen und ging zum Rand des Wassers. Ashes Hand lag noch in ihrer, und sie berührte Achmeds Schulter. Die Männer standen schweigend neben ihr, als sie die Stimme erhob, die rau und brüchig wie die einer alten Frau war. Sie sang die alte Vesper für die Sonne und das Lied des Scheiterhaufens für Vater und Sohn, die nun beide im Meer ruhten.

Sie sang die alten Weisen, die sie in der Gezeitenhöhle gelernt hatte. Das Meer hatte sie ihr beigebracht; es war der Ruf des Windes und der Rhythmus der Wellen, endlos und unablässig, in allen Farben und Tönen, die ihre Ohren erfüllt hatten, während sie in der Umarmung des Wassers geschwebt hatte. Es war ein Lied, das nun in ihrem Blut widerhallte, ein Lied von Herzen über ihren Großvater, der das Tiefland verlassen hatte, um zur See zu fahren, ein Lied, gewebt aus den Weisheiten, die sie gelernt hatte, ein Lied über das Kind, das sie trug und das nun und für immer in den Geheimnissen der Wasserwelt unterwiesen war, ein Lied über die verborgenen Berge, die unsichtbaren Schönheiten und die Schätze, die unter den rollenden Wogen lagen. Sie sang von dem Leben der beiden Soldaten, das eine kurz, das andere weit über jede Vernunft verlängert. Beide waren starke Wächter gewesen und nun Teil des nie endenden Rhythmus der See, Teil ihrer Weisheit.

Teil ihres Liedes.

Der Ozean brüllte dazu, die salzfleckige Luft über den tosenden Wellen peitschte ihr ins Gesicht, alle Farben des Lichts waren zu einem ewigen, wirbelnden Tanz verschlungen. Es war eine Sinfonie der Zeit, eine endlose Totenklage, eine Elegie, ein Schlaflied, ein Schöpfungsgesang, ein Vernichtungsgesang, ein Lied stiller, unablässiger Wächterschaft und vollkommener Unausweichlichkeit. Lebt eure menschlichen Leben, wie lang sie auch immer sein mögen; in den Augen der Unsterblichkeit sind sie nur ein Flackern.

Sie sang die Sonne hinab und verstummte dann. Stimme und Stärke waren vergangen. Sie wandte sich an ihren Gemahl und fragte, solange sie noch reden konnte: »Hat Anborn es überlebt?«

Achmed nickte. Rhapsody seufzte tief.

»Dem All-Gott sei Dank«, flüsterte sie zu Ashe. »Sam, bitte bring mich nach Hause. Ich muss Anborn sehen und ihm sagen, dass er nicht versagt hat. Und ich will bei Gwydion sein. Ich muss das Versprechen einlösen, das ich ihm gegeben habe. Und danach muss ich zum Nest der Drachin gehen. Wenn du willst, darfst du mich begleiten.« Sie lächelte schwach und erinnerte sich an die Musik des Entdeckers, die sie erlernt hatte. »Ich habe einige Lieder für sie. Die Stille in ihrer Höhle wird bei mir Wunder wirken. Nach all dem andauernden Lärm verlangt es mich am stärksten nach Ruhe und Frieden.«

Ashe zog sie näher an sich. Sein Blick war traurig.

»Wenn ich aus alldem eines gelernt habe, dann ist es das, dass Männer wie Achmed und Anborn Recht haben, Rhapsody. So etwas wie dauerhaften Frieden gibt es nicht. Das Höchste, das wir erwarten dürfen, sind Zeiten der Ruhe zwischen den Kämpfen«, sagte er sanft. »Aber ich will dafür sorgen, dass diese Zeiten der Ruhe für dich und für uns alle so lange andauern wie möglich.« Er fuhr mit der Hand über ihr abgeschnittenes Haar. »Und nun werde ich dich nach Hause bringen. Auf dem Felsvorsprung über uns glänzt ein Schwertgriff in der Sonne. Ich vermute, wir sollten es mitnehmen. Tysterisk war einst die Waffe der Blutsverwandten. Mein Namensvetter wird es vielleicht eines Tages gebrauchen können.«

Rhapsody lächelte schwach. »Vielen Dank, dass du mir dabei hilfst, mein Versprechen bei ihm und Melisande einzulösen«, sagte sie. Ihre Stimme war ein raues Flüstern. »Wir sollten uns beeilen. Ich will nicht, dass sie auch nur einen Augenblick länger leiden müssen.«

Ashe nickte und hob ihren Handrücken an die Lippen.

»Es gibt da aber einen Ort, an dem wir vorher anhalten sollten. Dort können wir etwas essen und uns ausruhen. Es wird dir gefallen. Du wirst einem alten Freund begegnen, der ein ganzes Leben darauf gewartet hat, dich wiederzusehen.« Er legte ihr den Arm um die Hüfte und führte sie über den Strand zu der Stelle, wo die Pferde warteten.

Achmed warf einen letzten Blick auf das Meer. Er suchte die gemächlichen Wellen ab, die noch immer Wrackteile des Schiffes anspülten. Dann drehte er sich um und schaute dem durchnässten Paar nach, das langsam Arm in Arm dahinging, und erlaubte sich einen sehnsüchtigen Augenblick. Er schüttelte den Kopf und folgte ihnen die Küste hoch.