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»Hol mir einen Metallzirkel«, befahl er einem der Soldaten, die in der Halle Wache standen. »Leg ihn vor der Tür laut genug ab, damit ich es hören kann, und geh dann fort. Fass die Klinke nicht an.« Der Bolg-Soldat nickte und lief den Korridor entlang.

»Lebt Omet noch?«, fragte Achmed Grunthor, während er die Tür wieder schloss.

Der Bolg-Sergeant nickte. »Sie hat ihn vergiftet und zum Sterben liegen gelassen, aber Rhur und Shaene haben ihn gefunden und in den Turm gebracht.«

Bei diesen Worten verdunkelten sich die verschiedenfarbigen Augen des Bolg-Königs in seinem pockennarbigen Gesicht.

»Haben sie den Schutz über der Turmkuppel deswegen entfernt? Sie haben versucht, den Lichtfänger zu benutzen? Um Omet zu heilen?«

Grunthor nickte angespannt.

Achmeds Bewegungen wurden langsamer. Er fuhr sich mit der behandschuhten Hand über den Mund und dachte nach.

»Und du sagst, dass Omet noch lebt?«

»Jawoll.«

Der Bolg-König hob ruckartig den Kopf. »Wie lebendig ist er? Ist er verkrüppelt oder dem Tode nahe?«

Grunthor seufzte. Er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass die Stoßzähne über die aufgeworfenen Lippen ragten.

»So gut wie neu«, sagte er schließlich. »Als ob es nie passiert war.«

Achmed stand reglos da und sann nach. Er war so konzentriert, dass selbst sein Atemholen unsichtbar geworden war. Grunthor sah, wie sich die Erkenntnis zuerst über sein Gesicht und dann über den ganzen Körper ausbreitete. »Es hat funktioniert«, sagte der König schließlich. »Der Lichtfänger hat richtig gearbeitet – oder wenigstens der Teil, der für die Heilungen verantwortlich ist, also die rote Sektion.«

»Man sollte glauben, dass die orangefarbene Sektion genauso gut funktioniert hat«, murmelte der riesige Bolg.

»Sie hat das Feuer entzündet, das dieses ganze verdammte Ding in die Luft gejagt hat.«

In der Halle ertönte ein metallisches Klappern, gefolgt von rasch davoneilenden Schritten.

»Es hat funktioniert«, wiederholte Achmed. »Du wirst die Bedeutung dessen noch nicht erkennen, Grunthor, aber ich kann dir versichern, dass es vollständig funktionieren wird, wenn wir es reparieren können, und dann haben wir einen Schutz für Ylorc und das Kind, der nicht seinesgleichen hat.« Er schenkte den rollenden Augen des Sergeanten keine Beachtung, sondern ging zur Tür und öffnete sie sorgsam. Er hob den Metallzirkel auf, der auf dem Steinboden lagen, und schloss die Tür wieder.

»Jetzt will ich erst einmal das Erdenkind sehen«, sagte er.

Während sie den grob behauenen Tunnel entlangliefen, der von der Truhe am Fußende von Achmeds Bett zu der Kammer führte, in welcher das Erdenkind schlief, roch Achmed immer noch ganz leicht den Rauch aus der Schlacht, die vor vier Jahren zum Schutz des Kindes geführt worden war. Für jede andere Nase wäre dieser Geruch nicht wahrnehmbar gewesen, doch Achmeds Geruchssinn und seine Kehle waren genauso empfindlich wie seine bloßliegenden Adern und Nerven. Diese seltsame Anatomie, die ihm von seiner dhrakischen Mutter und seinem unbekannten Bolg-Vater vererbt worden war, stellte für ihn sowohl einen Fluch als auch ein Segen dar. Sie verschaffte ihm Warnungen vor Gefahren, die sonst keiner bemerkte, und die Erinnerung an Dinge, die andere schon lange vergessen hatten.

Sogar Grunthor. Während des Abstiegs warf er einen Blick auf den Sergeant-Major und bemerkte das ausdruckslose Gesicht seines Freundes im kalten Licht ihrer Laternen, die aus glimmernden, in den Tiefen des Berges gefundenen Kristallen bestanden. Grunthor lauschte dem Lied der Erde, das nur er hören konnte. Was immer es für ein Lied war, es machte ihn wachsam und angespannt, doch er verspürte nicht denselben Schrecken, den Achmed jedes Mal fühlte, wenn er diesen Ort betrat.

Wann immer sie in die Trümmer des Loritoriums hinabstiegen, des Grabes tief im Innern des Berges, wo das Erdenkind schlief, wurde der Bolg-König von erschreckenden Erinnerungen an die Schlacht heimgesucht, die sie in der Nähe geführt hatten. Die F’dor hatten eine der Wurzeln des Weltenbaumes zersetzt und waren an ihr entlang durch die Kruste der Erde geglitten, vorbei an den Wachttürmen und Bollwerken, die er und Grunthor so sorgfältig errichtet hatten. Sie waren bis in das Herz der Bergkette vorgedrungen – in die verborgene Kammer, in der das Kind seit Jahrhunderten schlummerte.

Es hatte keine Warnung gegeben, außer den Albträumen des Kindes.

Und das Kind konnte nicht sprechen, konnte ihnen nicht sagen, was da auf es zukam.

Achmed beschleunigte seine Schritte, als sie sich der Kammeröffnung näherten. Er rannte durch den roh behauenen Eingang und kletterte geschwind über die Barrikade aus Felsen und lockerem Gestein, die das letzte Bollwerk vor dem beschädigten Loritorium darstellte. Er hielt den Atem an, als er den Schotterberg hinaufstieg. In der Ferne sah er es. Es schlief. Achmed seufzte leise und nickte Grunthor zu, der ihm über den schlüpfrigen Geröllhaufen nachstieg. Gemeinsam gingen sie hinüber zu dem Altar aus Lebendigem Gestein, auf dem das Mädchen schlummerte. Sie schauten hinunter auf das Erdenkind; ihre Augen suchten nach Veränderungen seit dem letzten Mal, als sie es gesehen hatten.

Ein eisiger Lufthauch senkte sich gleichzeitig auf die beiden nieder.

»Sie vertrocknet«, flüsterte Grunthor.

Achmed nickte. Er zog den Metallzirkel hervor und maß vorsichtig den Körper, der einmal größer als sein eigener gewesen war. Das Kind hatte ein wenig von seinem glatt polierten Fleisch verloren, das früher die lebendigen Farben der Erde getragen hatte: Grün und Braun, Zinnoberrot und Purpur. Es waren gewundene Bänder aus Farbe gewesen, die nun unter der silbergrauen, durchscheinenden Haut verblasst waren. Wie viel es verloren hatte, war ungewiss, doch wenigstens hatte er nun einen Vergleichs wert.

Zögernd streckte er die Hand aus und legte sie auf das Haar des Erdenkindes, das brüchig wie strohiges Gras am Ende des Sommers war. Die Haarwurzeln waren golden wie reifer Weizen – ein Zeichen dafür, dass die Erde, aus der das Kind hervorgegangen war, sich auf die Erntezeit vorbereitete, bevor sie in den Schlaf des kommenden Winters fiel. Doch unter den grasähnlichen Locken lagen schwarze Strähnen wie Unkraut, entweder vom Feuer verbrannt oder von Gift versengt.

»Nein«, flüsterte Achmed. »O Götter, nein!«

»Glaubst du, sie ist krank?«, fragte Grunthor besorgt und suchte mit seinen Blicken die leere Gruft ab. Achmed gab keine Antwort. »Lass mich mal sehen.«

Der Bolg-König trat benommen beiseite, während sich der riesige Sergeant dem Katafalk mit dem Schlafenden Kind näherte. Er sah zu, wie Grunthor nachdenklich auf es herunterschaute. Der Riese war genauso mit der Erde verbunden wie der König, noch mehr sogar, denn seine Verbindung mit ihr war vor langer Zeit geschmiedet worden. Die Erde sprach zu seinem Blut. Manchmal war es nur ein flüchtiger Eindruck, den Grunthor aus dieser Verbindung gewann, ein Bild in seinem Kopf, das er dem Bolg-König nie in Worten mitteilen konnte. Aber das war auch nicht nötig. Achmed konnte den Ernst der Botschaft jeweils an Grunthors Gesichtsausdruck ablesen. Er sah nervös zu, wie der Riese eine Hand ausstreckte und sie sanft auf den Bauch des Kindes legte. Sie ruhte auf der Daunendecke, mit der Rhapsody es vor vielen Jahren zugedeckt hatte. Das Gesicht des Kindes war vom selben polierten Grau wie immer, als sei es aus Stein gemeißelt, doch Achmed spürte eine krank machende Benommenheit, als er bemerkte, dass an der Stirn des Mädchens kleine schlammige Rinnsale herunterliefen. Es wirkte, als schwitze es im Fieber.

Der Atem, kaum sichtbar im Schlaf, war unregelmäßig. Beim Einatmen war ganz leise ein Schnaufen zu hören, das gewiss nichts Gutes für die Gesundheit bedeutete, falls ein uraltes Wesen, das aus Lebendigem Stein gebildet war, so etwas wie Gesundheit haben konnte. Lass das, was in der Erde schläft, ungestört ruhen; sein Erwachen kündigt von ewiger Nacht, hatte einst über dem Eingang zu ihrer Kammer gestanden. Die Buchstaben waren mannshoch gewesen, wie um ihre Bedeutung hervorzuheben. Ob sich diese Prophezeiung auf das Kind selbst bezog oder auf noch schrecklichere Dinge, die in der Erde schlummerten, wusste Achmed nicht. Aber da er einige dieser Dinge mit eigenen Augen gesehen hatte, war ihm klar, dass die friedliche Ruhe dieses Wesens nicht nur für seine eigene Sicherheit und die seiner Untertanen, sondern für die ganze Welt von enormer Bedeutung war.