»Wenn du dieser Meinung warst, hast du da nicht gezögert, dich Schwester Canairs Gruppe anzuschließen?«
»Ich erfuhr erst beim Aufbruch, daß Schwester Mu-irgel der Gruppe angehörte. Ich glaubte, ich könnte auf der Fahrt eine enge Berührung mit ihr vermeiden.«
»Kanntest du sie persönlich oder nur als Tochter eines Fürsten, den du verabscheutest?«
»Ich kannte sie aus den Geschichten, die in unserer Abtei über sie umliefen.«
»Was für Geschichten?« Fidelma war neugierig.
»Von ihrer Promiskuität, von ihren unkeuschen Beziehungen zu anderen Brüdern. Von der Art, wie sie andere Leute für ihre eigenen Zwecke ausnutzte.
Sie war das Gegenteil eines wirklich religiösen Menschen.«
»Das ist ein hartes Urteil über eine Schwester«, meinte Fidelma.
»Ein Größerer als ich wird über sie richten. >Daß ihr wartet und eilet zu der Zukunft des Tages des Herrn, an welchem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden! Wir warten aber eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach Seiner Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnt.<«
Fidelma war nicht beeindruckt von diesem Bibelzitat und überhörte es.
»Wie kommt es, daß solche Geschichten in deiner Abtei Bangor verbreitet wurden, während Muirgel doch Nonne in Moville war?«
»Es gab einen regen Austausch zwischen unseren Gemeinschaften. Unser Abt hatte oft Anlaß, dem Abt von Moville etwas auszurichten. Einmal mußte er ihm mitteilen, daß er solche Geschichten gehört hatte und daß sein Amtsbruder seine Gemeinschaft nicht zu einer Lasterhöhle hinabsinken lassen dürfe.«
»Wie hat der Abt von Moville darauf reagiert?«
»Überhaupt nicht.«
»Vielleicht meinte er, es sei nicht Sache des Abts von Bangor, ihm zu sagen, wie er seine Gemeinschaft zu führen habe?« lächelte Fidelma freudlos. »Jedenfalls hast du dir eine schlechte Meinung von Schwester Muirgel gebildet.«
Bruder Tola nickte und intonierte:
Fidelma unterbrach ihn scharf.
»Abgesehen davon, daß Christus, wie ich mich erinnere, gesagt hat, Huren würden eher in den Himmel kommen als manche religiösen Führer, willst du jetzt behaupten, Schwester Muirgel sei eine Hure gewesen?«
Tola fuhr einfach fort in seinem Zitat aus den Sprüchen Salomos.
Fidelma hob die Hand, um seinen volltönenden Vortrag zu unterbrechen. Schließlich fuhr sie heftig dazwischen.
»Die Verse aus den Sprüchen Salomos, Kapitel sieben, kenne ich auch. Was meinst du damit, wenn du diesen Abschnitt zitierst? Hast du es Schwester Muirgel verübelt, daß sie Beziehungen zu Männern hatte oder daß sie ihren Körper jedem verkaufte, der dafür zahlte? In dieser Sache müssen wir uns genau ausdrücken. Was verstehst du unter einer Hure?«
»Du bist rechtskundig, du kannst das auslegen, wie du willst. Ich sage nur, sollen ihr doch die törichten Jünglinge folgen wie die Ochsen auf dem Wege zur Schlachtbank.«
Dieselben engstirnigen Ansichten hatte sie schon mehrfach von Mönchen gehört, die für eine Reform der irischen Kirche nach den Grundsätzen der römischen Kirche eintraten. Sie wollte seine Einstellung eindeutig klären.
»Sag mir, Bruder Tola, gehörst du zu denen, die glauben, daß Mönche und Nonnen im Zölibat leben sollten? Diese Meinung habe ich oft in Rom vernommen.«
»Heißt es nicht bei Matthäus, daß Christus, unser Herr, Seinen Anhängern das Zölibat vorgeschrieben hat?«
Das war ein beliebtes Argument derer, die von allen Mönchen und Nonnen ein Gelübde der Keuschheit verlangten. Fidelma hatte es oft gehört und die Antwort parat.
»Als der Jünger Christus fragte, ob es besser sei, nicht zu heiraten, antwortete Er, daß das Zölibat nicht für alle annehmbar sei; es sei nur für die bestimmt, denen Gott es zugedacht habe. Seine Worte lauteten, einige seien von Geburt her unfähig zum Heiraten oder weil sie von Menschen dazu gemacht wurden, während andere in der Tat um des himmlischen Königreichs willen auf die Heirat verzichteten. Er überließ die Entscheidung dem einzelnen. Die es können, mögen es annehmen. Bisher haben die christlichen Kirchen an dieser freien Entscheidung festgehalten .«
Tolas Miene verriet seinen Ärger. Er ließ sich offensichtlich nicht gern mit Bibelzitaten übertreffen.
»Ich folge darin der Lehre des Paulus. Ehelosigkeit ist das Ideal des christlichen Sieges über das Böse in der Welt und muß zur Grundlage des religiösen Lebens gemacht werden.«
»Es gibt eine Fraktion in Rom, die an dieses Zölibat glaubt«, gab Fidelma zu, doch ihr Ton ließ erkennen, daß sie nicht viel davon hielt. »Aber wenn Rom das als Dogma des Glaubens anerkennt, dann heißt das, daß sich der Glaube gegen das stellt, was Gott geschaffen hat. Wenn Gott uns ehelos gewollt hätte, dann hätte er uns so gemacht. Doch ich möchte von der Theologie jetzt wieder auf den vorliegenden Fall zurückkommen. Du hast offensichtlich Schwester Muirgel nicht gemocht.«
»Ich habe nichts getan, um das zu verbergen.«
»Nun gut. Abgesehen davon, daß sie in deinen Augen zu wahllosen geschlechtlichen Beziehungen neigte, verstehe ich trotzdem nicht die Tiefe deiner Abneigung.«
»Sie verführte und verdarb junge Männer.«
»Kannst du mir ein Beispiel nennen?«
»Bruder Guss zum Beispiel.«
»Du wußtest also, daß Bruder Guss behauptet, er habe Schwester Muirgel geliebt?«
»Sie hat ihn mit ihren Ränken umgarnt, wie ich dir klarzumachen versuchte.«
»Ein hartes Urteil. Hatte Bruder Guss keinen freien Willen?«
»Ich habe den Jungen gewarnt«, fuhr Bruder Tola fort. Er verdrehte die Augen und suchte in seinem Gedächtnis nach einem weiteren Bibelzitat.
»Die Sprüche Salomos, Kapitel sieben, haben es dir wohl angetan«, spottete Fidelma. »Zitierst du oft daraus?«
»Ich tat mein Bestes, um den armen Bruder Guss zu warnen.« Tola ging nicht auf ihren Ton ein. »Ich preise die Hand Gottes, die die Hure über Bord fegte.«
Fidelma schwieg eine Weile. Ihr war klargeworden, daß Bruder Tola ein Mann von einer so starken religiösen Überzeugung war, daß es an äußerste Intoleranz grenzte. Sie wußte, daß Menschen schon aus religiöser Intoleranz getötet hatten.
»Wann hast du erfahren, daß Schwester Muirgel über Bord gespült wurde?« erkundigte sich Fidelma.