»Escrach war also nicht Gabrans Freundin?«
»Er wollte Beccnat heiraten. Wir sind nur eine kleine Ansiedlung. Ich glaube nicht, daß Escrach in Rath Raithlen jemanden besonders im Auge hatte. Wir wollten sie zu meinem Bruder schicken, der als Müller in einem Hafenort arbeitet. Er hätte dort für Escrach eine anständige Partie anbahnen können.« Auf einmal stockte er und zögerte. Dann sagte er grimmig: »Wer immer unser Kind umgebracht hat, hat auch meine Frau auf dem Gewissen.«
Entsetzt schaute Fidelma Accobran an.
»Du hast mir nicht gesagt, daß ...«, begann sie.
»So verhält es sich ja auch nicht«, rechtfertigte sich der Tanist. »Deine Frau lebt doch noch, Müller.«
Seachlann lachte wütend. »Ich meine nicht den eigentlichen Tod. Seit dem Mord an Escrach sitzt meine Frau nur noch vor dem Feuer. Völlig regungslos. Von der Außenwelt nimmt sie nichts mehr wahr. Escrachs Tod hat eine lebende Leiche aus ihr gemacht. Wenn du einen Beweis dafür brauchst, so zeige ich dir gern die Hülle meiner Frau.«
»Kannst du uns etwas über die Umstände von Es-crachs Tod mitteilen? Sag uns bitte alles, was du weißt«, bat ihn Fidelma freundlich.
»Das werde ich nie vergessen. Es war in der Vollmondnacht des letzten Monats. Escrach hätte nie allein unterwegs sein dürfen. Doch sie hatte sich auf den Weg zur Schwester meiner Mutter gemacht, ihrer Großtante, die nur ein Stück weiter am Fluß wohnt, hinter dem Hügel südlich von hier.«
»Hinter dem Hügel mit dem Eberdickicht?« fragte Eadulf interessiert.
»Richtig. Sie hätte eigentlich längst zu Hause sein sollen, doch ich wußte, der alten Frau ging es nicht gut, und nahm an, daß Escrach so lange wie möglich bei ihr geblieben war. Als sie am nächsten Morgen immer noch nicht da war, machte ich mich sofort über den Hügel zur Hütte meiner Tante auf und sah mich unterwegs genau um. Meine Tante erklärte mir, Es-crach sei nie bei ihr eingetroffen. Hatte sie mich ange-logen? Ich lief denselben Weg wieder durch den Wald zurück und stieß dabei auf Goll, den Holzfäller. Er wirkte verstört und meinte, ich sollte mich auf etwas gefaßt machen. Ich wußte sofort, was er meinte. Er wollte gerade seiner Arbeit nachgehen . Und nicht weit von dem Pfad, in der Nähe des Steinkreises ...«
»Den ihr Steinkreis der Wildschweine nennt?« wollte Eadulf wissen.
Diesmal überging der Müller seine Zwischenfrage. »Da hatte Goll den verstümmelten Leichnam unserer Tochter gefunden.« Seachlann rang nach Luft. »Entweder ein Verrückter oder ein wildes Tier hatte ihrem jungen Leben ein Ende gesetzt. Nachdem Liag sich die Tote genau angesehen hatte, haben wir sie zum Begräbnis nach Hause gebracht. Seit diesem Zeitpunkt sitzt ihre Mutter am Feuer und spricht nicht mehr.«
Nun schwiegen alle.
»Warum glaubst du, daß dafür die fremden Mönche im Kloster verantwortlich sind?« erkundigte sich Eadulf.
Seachlann hob den Kopf und starrte ihn voller Feindseligkeit an. »Willst du sie etwa beschützen? Du bist selbst einer. Du sprichst zwar unsere Sprache, hast aber einen fremdländischen Akzent.«
»Bruder Eadulf ist mein Gefährte, ein Abgesandter des Hofes von Cashel. Er hilft mir bei der Wahrheitsfindung«, unterbrach ihn Fidelma streng. »Seine Fragen sind sehr wichtig. Er stellt sie in meinem Auftrag.«
Seachlann erhob sich und ging zur Tür der Mühle.
»Brocc! Komm her und steh der dalaigh Rede und Antwort.«
Kurz darauf trat Brocc ein und sah sich um.
»Welche Frage muß ich beantworten?« erkundigte er sich mit resoluter Stimme.
»Dein Bruder hat uns von den Todesumständen seine Tochter berichtet«, sagte Eadulf. »Wir haben allerdings nicht erfahren, warum du so überzeugt bist und auch ihn überzeugt hast, daß der Mord von einem der Brüder verübt wurde, die zu Gast in der Abtei weilen.«
Brocc wandte sich zornig an seinen Bruder. »Ich wußte es doch. Sie sind hier, um sie in Schutz zu nehmen.«
Fidelma wollte ihm schon etwas entgegnen, da hob der Müller die Hand.
»Ich gehe davon aus, daß die Schwester unseres Königs hier ist, um Gerechtigkeit walten zu lassen, Brocc. Sie hat mir ihr Wort als dalaigh gegeben. Sie verbürgt sich auch für den sächsischen Fremden.«
»Und der Abt verbürgt sich für die Fremden in seiner Abtei!« erwiderte Brocc schroff. »Warum sollten wir ihr mehr Glauben schenken als dem Abt, dem wir auch nicht vertrauen? Diese Mönche dienen alle einer Sache, sie sind nur sich selbst gegenüber verpflichtet.«
»Das ist nicht wahr, Brocc«, tadelte ihn Fidelma. »Wenn du mein Wort nicht akzeptierst, so akzeptiere das deines Bruders.«
Brocc lachte zynisch auf. »Mein Bruder ist ein guter Mensch. Er hält immer das Beste von den Leuten und kann leicht hinters Licht geführt werden.«
Traurig schüttelte Seachlann den Kopf. Er war nicht wütend über seinen Bruder. »Ob man mich mit Worten hinters Licht führt oder nicht, Brocc, was schadet es, ihnen die Wahrheit zu sagen? Warum sollte man ihnen etwas vorenthalten, was man mit eigenen Augen gesehen hat?«
Brocc rümpfte gereizt die Nase. »Man hat mir vorher auch nicht geglaubt, warum sollte es jetzt anders sein?«
Fidelma lehnte sich zurück, so konnte sie Brocc genau beobachten, denn die Sonne schien durch die Öffnungen in der hölzernen Mühlenwand auf ihn.
»In derart ernsten Fällen gehen wir nicht nur einer Zeugenaussage nach, Brocc. Sonst könnten wir ja all jenen Leuten, die wir nicht mögen, irgendwelche Verbrechen vorwerfen und sie einer Bestrafung zuführen, nur weil wir es behaupten. Wir brauchen mehr als nur Behauptungen, Brocc.«
Der stämmige Mann drehte sich mit triumphierendem Schnauben zu seinem Bruder um. »Siehst du, Seachlann? Schon gelten meine Worte nichts mehr.«
Fidelma stieß wütend die Luft aus. »Worte sind Schall und Rauch, Brocc. Wir suchen die Wahrheit. Wie können wir feststellen, ob du die Wahrheit sagst, wenn du uns gegenüber schweigst?«
»Mein eigener Fürst hat auf mich gezielt und mich verstümmelt. Lag ihm die Wahrheit am Herzen?« schrie Brocc.
»Ja. Ihm lag das Gesetz und seine Einhaltung am Herzen. Du hast das Gesetz in die eigene Hand genommen. Du wurdest Richter und Vollstrecker des Gesetzes; das entsprach deiner Vorstellung vom Gesetz. Doch nun genug davon. Ich werde mich nicht länger streiten. Entweder sagst du mir, warum du die Fremden in der Abtei anklagst, oder ich werde dich vor einen Brehon bringen, der dich dafür bestraft, daß du Verleumdungen verbreitest und zu Aufruhr anstiftest.«
Brocc kniff mehrmals die Augen zusammen.
»Das Morden setzte mit der Ankunft der drei Fremden im Kloster ein.«
Fidelma wartete ungeduldig.
»Diese drei Fremden sind nicht wie wir. Das sind keine Menschen.«
»Was soll das heißen?« entgegnete Eadulf. »Wenn es keine Menschen sind, was sind sie dann? Tiere, Geister oder was?«
»Geht zur Abtei und seht sie euch an. Mehr kann ich nicht sagen. Kommt wieder und sagt mir, ob es Menschen sind, wie wir sie kennen.«
»Jetzt sprichst du in Rätseln. Was immer du auch von diesen Mönchen halten magst, so tut das hier nichts zur Sache«, erklärte Fidelma. »Verrate mir, wieso du weißt, daß diese Fremden die Mörder der Mädchen sind, insbesondere von Escrach. Keine Nebensächlichkeiten mehr, Brocc. Ich möchte nichts über irgendwelche Zufälle hören, sondern brauche Fakten, nicht weniger und nicht mehr.«
Accobran, den die ganze Sache offensichtlich langweilte, stand auf und streckte sich. »Sag nur der dalaigh, warum du glaubst, daß die Fremdem an Es-crachs Tod beteiligt sind, dann können wir das hier beenden.«
»Warum?« Ein verzerrtes Lächeln huschte über Broccs Gesicht. »Warum? Weil ich den Mörder gesehen habe!«
Kapitel 6
Alle in der Mühle waren starr vor Entsetzen.