»Nach unserem Gesetz dürfen Menschen nicht in Knechtschaft gehalten werden«, sagte Fidelma. »Diejenigen aber, die das Gesetz übertreten, büßen oft ihre Rechte als Freie ein. Gelegentlich verkaufen skrupellose Kaufleute sie in ferne Länder, wo das Halten von Sklaven üblich ist. Ich war in den sächsischen Königreichen, in Rom und auch in Iberia und habe etwas von der Welt außerhalb unserer Küsten gesehen. Es ist keine gute Welt.«
»Du tätest wohl daran zu bedenken, daß dieses Land nicht vom Rest der Welt isoliert existiert, sondern die Sünden der Menschheit mitträgt«, bemerkte Bruder Dangila trocken.
Fidelma lächelte leicht. »Das ist gut gesagt, Bruder Dangila. Du hast recht, und du erinnerst mich an unsere Schwächen und meine Pflichten. Kehren wir also zu unserer letzten Hypothese zurück.«
»Ich ändere meine Haltung dazu nicht.«
»Das meine ich gar nicht. Ich möchte nur ein wenig die These ausbauen, daß Brocc dich damals gesehen hat. Du mußt wissen, der war in jener Nacht nicht der einzige auf dem Hügel, den man in den Zeugenstand rufen wird.«
Bruder Dangila schaute sie mit undurchdringlichem Gesicht an. »Dann soll doch der andere Zeuge die richtige Person identifizieren, und wir könnten diese ganzen Spekulationen sein lassen. Ein Brehon akzeptiert schließlich nur bewiesene Tatsachen, wenn er ein Urteil zu fällen hat!«
»Also nennen wir es einmal nur Vermutung. Ich gehe wohl recht in der Annahme, daß du zu deiner Verteidigung vorbringen würdest, einzig aus purem Interesse an der Wissenschaft die Sterne betrachtet zu haben.«
»Aber ja.«
Fidelma sprach nun ganz ernst mit ihm. »Dann möchte ich dies als Warnung anfügen, Bruder Dangila. Wenn sich meine Vermutung als falsch erweist, kann ich zu einem Blitz werden, der in eine hohe Eiche fährt. Die Wirkung wäre ungeheuerlich. Ich glaube, du verstehst mich.«
»Das war sehr deutlich, Fidelma von Cashel. Du bist eine Frau mit Prinzipien und Mut, und dafür bewundere ich dich.«
Fidelma wollte Bruder Dangila gerade fragen, warum er auf Accobrans Wagen gesessen hatte, als plötzlich ein Rufen vom Waldrand herüberdrang. Im nächsten Moment preschte Accobran auf seinem Pferd unter den Bäumen hervor, mit einem Schwert in der Hand. Ihm folgte Eadulf, ebenfalls zu Pferde.
Bruder Dangila sprang auf. Zu Fidelmas Überraschung stellte sich der große Aksumiter vor ihr auf, als wolle er sie vor einem Angriff beschützen.
»Warte!« rief Fidelma. Sie konnte gerade noch Bruder Dangilas Hand ergreifen, in der auf einmal ein Messer aufblitzte. Dann rief sie dem Tanist zu: »Senk dein Schwert! Halte ein, sage ich!«
Accobran zog die Zügel fest an und glitt vom Pferd. Schon stand er mit erhobenem Schwert vor Dangila. Eadulf ließ sich neben ihm vom Pferd.
»Was hat das zu bedeuten, Accobran?«
»Dir ist nichts geschehen, Lady?« fragte der Tanist.
»Natürlich nicht«, erwiderte Fidelma verärgert. »Warum bedrohst du Bruder Dangila mit dem Schwert? Steck es in die Scheide zurück, sage ich. Ich bin nicht in Gefahr.«
Accobrans Augen waren voller Mißtrauen.
»Wie lange bist du schon mit Bruder Dangila hier?« fragte er, ohne ihre Anweisung zu befolgen.
Fidelma zuckte mit den Schultern. »Für eine Unterhaltung hat es gereicht.« Sie blickte zu Eadulf, der nun zu ihr trat. »Eadulf, kannst du mir euer Verhalten erklären, Accobran ist dazu wohl nicht in der Lage.«
Eadulf war zutiefst erleichtert, als er ihre Hand nahm.
»Wir haben um deine Sicherheit gefürchtet .«
»Warum? Ich verstehe das nicht. Habe ich dir nicht gesagt, daß mir nichts geschehen wird?«
»Lesren ist ...« Eadulf zögerte, als müsse er erst die richtigen Worte finden.
»Lesren ist . ? Um Himmels willen, was ist mit ihm?«
Schließlich antwortete Accobran. »Lesren ist vor kurzem aufgefunden worden. Mit durchschnittener Kehle.«
Kapitel 10
Nachdem sie Bruder Dangila zurück zum Kloster begleitet hatten, machten sich Fidelma, Eadulf und Ac-cobran auf den Weg zur Gerberei. Eadulf hatte spöttisch gesagt, möglicherweise sei Fidelma Bruder Dan-gila begegnet, kurz nachdem er Lesren umgebracht hatte. Denn vom Hügel über dem Kloster ging man nur eine halbe Stunde bis zur Gerberei, wo man dessen Leiche entdeckt hatte.
»Aber warum sollte Bruder Dangila Lesren töten?« fragte Fidelma betroffen.
Eadulf zog es vor zu schweigen.
»Lesrens Tod gibt der Sache eine ganz neue Wendung«, stellte Fidelma nach einer Weile fest.
»Ich verstehe nicht.« Accobran runzelte die Stirn.
»Wenn Lesrens Tod mit den anderen drei Morden in Zusammenhang steht, müssen wir unsere bisherige Theorie noch einmal überdenken.«
Als Fidelma sah, daß die beiden Männer nicht begriffen, was sie meinte, zeigte sie auf den blauen Herbsthimmel über sich.
»Wann wurde die Leiche gefunden?« fragte sie.
»Kurz nach Mittag.«
»Und wann hat man Lesren zum letztenmal gesehen?«
»Kurz nach dem Mittagessen und ... Oh.« Eadulf errötete leicht. »Dieser Mord läßt sich nicht einem mondbesessenen Täter zuschreiben. Er paßt nicht in die Serie der Vollmondmorde.«
»Genauso ist es.«
»Gabran! Der hätte einen triftigen Grund, Lesren umzubringen! Es könnte sein, daß er nach unserem Besuch heute vormittag so aufgebracht war, daß er die Sache ein für allemal aus der Welt schaffen wollte.«
Das war Fidelma auch schon in den Sinn gekommen. Lesren hatte Gabran schließlich unverändert für Beccnats Tod verantwortlich gemacht.
»Ich glaube, wir sollten Bruder Eadulfs Vermutung nachgehen«, meinte Accobran.
»Ja, das sollten wir tun, jede Spur kann wichtig sein«, erwiderte Fidelma.
»Auch Finmed kommt als Täterin in Frage«, meinte Eadulf seufzend, als er weiter über die Sache nachdachte. »Alle drei, Goll, Finmed und Gabran, waren auf Lesren nicht gut zu sprechen. Das mag ein ausreichendes Motiv für einen Mord sein.«
»Andererseits muß da nicht unbedingt ein Zusammenhang bestehen«, bemerkte Fidelma. »Aber wir müssen die drei im Auge behalten. Wie habt ihr von Lesrens Tod erfahren?«
Accobran erzählte es ihr: »Wir hatten uns von dir getrennt und waren gerade in der Festung angelangt, als mir einer von Lesrens Gehilfen aufgeregt die Nachricht überbrachte. Also ritten wir sofort los. Les-ren lag am Waldrand, genau hinter der Gerberhütte. Als wir sahen, daß wir nichts mehr ausrichten konnten, machten wir uns umgehend auf die Suche nach dir, denn wir fürchteten um deine Sicherheit.«
»Und der Mann, der den Toten gefunden hat?«
»Der bewacht die Leiche und tröstet Bebhail, so gut er kann.«
Sie ritten auf dem Weg am Flußufer entlang und kamen bald zur Gerberei. Nirgendwo schien jemand zu arbeiten, weder an den Rahmen noch bei den Farbbottichen.
»Wo ist die Leiche jetzt?« fragte Fidelma, als sie vor Lesrens Hütte absaßen.
Accobran zeigte zum Waldrand. Ein Mann trat unter den Bäumen hervor und winkte ihnen zu.
»Das ist Tomma, Lesrens Gehilfe. Er hat mich benachrichtigt. Ich habe ihn gebeten, hier aufzupassen«, erklärte der Tanist und winkte zurück.