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Sie zögerte einen Moment. Dann sagte sie mit einem lachenden Unterton: »Ich muß schon sagen! Sind Sie aber reich... Würde es Ihnen etwas ausmachen, meine Arme loszulassen?«

Verlegen wurde er sich der verstreuten Münzen bewußt und trat hastig einen Schritt zurück.

»Du lieber Gott! Tut mir leid! Was bin ich doch für ein ungeschickter Tölpel. Ich - ist Ihnen etwas hingefallen?«

»Meine Handtasche, glaube ich. Und ein Buch.«

Er bückte sich und hob ihre Sachen auf. Selbst später, als der Zug schon durch die würzige Dunkelheit dieser angenehm kühlen Nacht rauschte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie ihr Gespräch seinen Anfang genommen hatte. Denn eine rußvernebelte, dämmrige Bahnhofshalle, die vom Rumpeln der Gepäckwagen widerhallt, scheint auf den ersten Blick nicht gerade der geeignetste Ort für so etwas zu sein. Doch irgendwie war sie genau richtig gewesen. Nichts sonderlich Geistreiches wurde gesagt, eher im Gegenteil. Sie standen bloß da und sprachen Worte, und in Rampoles Kopf begann es zu singen. Er machte die Entdeckung, daß beide Bücher, dasjenige, welches er sich gerade gekauft hatte und das, welches er ihr aus der Hand geschlagen hatte, vom selben Autor stammten. Da es sich dabei um Edgar Wallace handelte, wäre dieser Zufall kaum dazu geeignet gewesen, einen Außenstehenden aus der Fassung zu bringen; doch Rampole machte eine große Sache daraus. Er merkte, daß er sich verzweifelt an dieses Thema klammerte, denn er fürchtete, sie könnte jeden Moment verschwinden. Er hatte nämlich gehört, die englischen Frauen seien unnahbar und zurückhaltend. Deshalb fragte er sich, ob sie nur einfach höflich war. Doch da war noch etwas anderes - vielleicht im Ausdruck der dunkelblauen Augen, die zu ihm aufblickten. Sie lehnte sich, nachlässig wie ein Mann, gegen den Waggon, die Hände in die Taschen ihres wolligen grauen Mantels gestopft: eine elegante kleine Person mit einem verschmitzten Lächeln. Und plötzlich hatte er das Gefühl, daß sie ebenso einsam war wie er selbst...

Er erwähnte Chatterham als seinen Zielort und erkundigte sich nach ihrem Gepäck. Sie richtete sich auf. Schatten legten sich auf ihr Gesicht. Ihre leicht kehlige Stimme mit dem abgeschliffenen und undeutlichen Akzent klang unschlüssig. Sie sprach leise:

»Mein Bruder hat die Koffer.« Erneutes Zögern. »Ich fürchte, er -er wird den Zug verpassen. Da ist schon das Signal. Sie steigen besser ein.«

Schwach tutete das Horn durch die Halle, es klang hohl. Es war, als würde etwas von ihm gerissen. Eine Spielzeuglok begann zu puffen und zu stampfen, die erbebende Halle blinkte mit allen Lichtern.

»Sehen Sie«, sagte er laut, »wenn Sie einen anderen Zug nehmen - «

»Beeilen Sie sich lieber!«

Rampole fühlte sich plötzlich so hohl wie das Signalhorn. Hastig rief er: »Zur Hölle mit dem Zug! Ich kann einen anderen nehmen. Außerdem fahre ich eigentlich nirgendwo hin. Ich - «

Sie mußte ihre Stimme heben, und er sah, daß sie lächelte: strahlend, besserwisserisch und amüsiert. »Unsinn! - Ich fahre auch nach Chatterham. Wahrscheinlich sehen wir uns dann dort. Ab mit Ihnen!«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich.«

»Na gut, in Ordnung. Sie - «

Sie deutete auf den Zug, und er schwang sich hinein, als die Räder eben zu rollen begannen. Er reckte den Hals aus dem Korridorfenster, um noch einen kurzen Blick auf sie zu werfen, und vernahm ganz deutlich, wie ihre kehlige Stimme etwas hinter ihm herrief. Sie rief etwas sehr Merkwürdiges:

»Wenn Sie irgendwo Gespenster sehen, dann heben Sie welche für mich auf!«

Was, zum Teufel, hieß das denn? Rampole starrte auf die dunklen Reihen stehender Waggons, die vorüberhuschten, und auf die schummrigen Lichter des Bahnhofs, die mit den Schwingungen des Zuges zu vibrieren schienen. Er versuchte, den letzten Satz zu verstehen. Er war durch die Worte nicht wirklich beunruhigt, doch sie hatten schon ein wenig, nun - verquer - geklungen. Das war der richtige Ausdruck. Sollte das Ganze ein Witz sein? Oder handelte es sich vielleicht um die englische Version eines verspäteten Aprilscherzes? Einen Augenblick lang wurde ihm heiß unterm Kragen. Nein, zum Donner. So was hätte er doch gemerkt. Ein Schaffner, der in diesem Moment im Korridor vorüberging, bemerkte einen jungen Gentleman, offenbar Amerikaner, der seinen Kopf blindlings aus dem Fenster in einen Wirbelsturm aus Rauch und Asche reckte, um alles mit so tiefen und freudigen Atemzügen einzuziehen, als handle es sich um feinste Gebirgsluft.

Seine Depressionen waren verschwunden. Der kleine, schwankende Zug, fast ohne Fahrgäste, gab ihm das Gefühl, er sitze in einem Schnellboot. Die Stadt London war jetzt nicht mehr groß und übermächtig, das Land nicht länger ein Ort der Einsamkeit.

Er hatte etwas Starkes in einem seltsamen Land getrunken und fühlte sich plötzlich jemandem sehr eng verbunden.

Das Gepäck! Einen Moment lang erstarrte er, doch dann erinnerte er sich, daß ein Träger die Koffer bereits in einem Abteil in der Nähe verstaut hatte. Das war also in Ordnung. Er spürte, daß der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Der Zug ruckte und schlingerte mit stampfendem Fauchen voran, und als er immer schneller wurde, schickte die Pfeife einen langgezogenen Signalton nach hinten. So hatten Abenteuer zu beginnen. >Wenn Sie irgendwo Gespenster sehen, dann heben Sie welche für mich auf.< Eine heisere Stimme, die irgendwie so klang, als habe ihre Besitzerin auf Zehenspitzen gestanden, wehte den Bahnsteig entlang...

Wenn sie eine Amerikanerin gewesen wäre, hätte er sie nach ihrem Namen fragen können. Wenn sie Amerikanerin gewesen wäre... Aber plötzlich merkte er, daß er gar nicht wollte, daß sie Amerikanerin war. Ihre weit auseinanderstehenden blauen Augen, das Gesicht, das nur ein klein wenig zu eckig war, um vollkommen schön zu sein, und der rote, verschmitzt lächelnde Mund: Alles kam ihm auf einmal exotisch und zugleich so echt angelsächsisch vor wie die backsteinerne Zuverlässigkeit von Whitehall. Er mochte die Art, wie sie die Worte betonte, die Andeutung von Spott, die darin mitschwang. Sie wirkte gelassen und frisch, wie jemand, der ausgeruht und zufrieden durch die Gegend schlendert. Als er sich vom Fenster abwandte, hatte Rampole das starke Verlangen, sich mit einem Klimmzug an einer der Abteiltüren hochzuziehen. Er hätte das auch gemacht, wäre da nicht ein sehr mürrischer und sehr steifer Herr mit einer gewaltigen Pfeife gewesen, der, seine Reisekappe auf einer Seite wie ein Barett übers Ohr gezogen, ihn mit glasigen Augen durch das Fenster eines nahen Abteils anstarrte. Die Gestalt glich so exakt der Karikatur eines Engländers, daß Rampole erwartete, der Mann käme heftig schimpfend und schnaubend den Korridor entlanggelaufen, wenn er sähe, daß hier jemand solchen athletischen Aktivitäten frönte.

Der Amerikaner sollte bald wieder an diesen Mann erinnert werden. Im Moment war er bloß gut gelaunt und hungrig und brauchte etwas zu trinken. Der Speisewagen weiter vorn fiel ihm ein. Nachdem er sein Gepäck in einem Raucherabteil geortet hatte, bahnte er sich auf der Suche nach etwas Eßbarem seinen Weg durch die engen Korridore. Der Zug ratterte jetzt durch die Vorstädte, quietschend, stampfend und schwankend unter schrillem Kreischen der Signalpfeife. An beiden Seiten glitten beleuchtete Häuserwände vorüber. Der Speisewagen war zu Rampoles Überraschung fast besetzt; man fühlte sich beengt, und es roch stark nach Bier und Salatöl. Als er einem anderen Gast gegenüber auf einen Sitz rutschte, dachte er, daß es da doch mehr Krümel und Flecken gab als nötig. Und erneut verwünschte er seinen Provinzialismus. Der Tisch bebte vom Rattern des Zuges, Lampen klirrten gegen Nickel und Holz, und er beobachtete, wie der Mann gegenüber ein gewaltiges Glas Guinness gekonnt unter seinen ebenso gewaltigen Schnäuzer führte. Nach einem gesunden Schluck setzte der andere das Glas wieder ab und begann zu reden.